Dramatische Szenen an der Grenze zu Griechenland. Türkische Beamte gaukeln schutzsuchenden Flüchtlingen vor, die Grenze sei offen, und bringen sie an den Zaun. Dort wird auf sie geschossen. Gleichzeitig hausen Menschen in überfüllten griechischen Flüchtlingslagern im Elend. Dabei gibt es Länder und Städte, die zur Aufnahme bereit wären. Sonntagnacht endlich einigte sich der Koalitionsausschuss, ein Kontingent schwer kranker und unbegleiteter Minderjährige aus den Lagern auf den griechischen Inseln aufzunehmen, wenn andere europäische Staaten das auch tun.
Von Wolfgang WeissgerberKreuzlingen, die größte Schweizer Stadt am Bodensee, ist ein Ort der kollektiven Scham für jeden anständigen Schweizer. Der dort zu Beginn des Zweiten Weltkriegs errichtete Grenzzaun zur Nachbarstadt Konstanz hinderte deutsche Juden an der Flucht vor dem sicheren Tod im KZ. Hauptsache, es kamen keine Fremden ins Land. In solch üblen Erfahrungen liegt der Ursprung des modernen Asylrechts. So etwas sollte sich nicht wiederholen. Das scheinen viele vergessen zu haben. Geschichte wiederholt sich. Zurzeit achten die Staaten Europas aber eher darauf, dass sich die Geschichte von 2015 nicht wiederholt. Damals waren allein nach Deutschland mehrere hunderttausend Flüchtlinge aus Afghanistan und Nahost gekommen und die Kanzlerin hatte mit dem legendären Satz „Wir schaffen das!“ Menschlichkeit und Größe gezeigt. Davon will heute niemand mehr etwas wissen. Europa schottet sich ab. Menschen als SpielbälleDas Elend in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ist seitdem nicht weniger geworden, im Gegenteil. Das betrifft die verworrene Lage in Afghanistan, die Tragödie von Armut, Hunger und Klimafolgen in Afrika und aktuell das Drama in Syrien. Das traurige Schicksal der Menschen, die dort vor dem Krieg fliehen, ist zum Spielball von Interessen geworden. Da ist der syrische Diktator Baschar al-Assad, der sich im Kampf mit einer diffusen Phalanx aus Regimegegnern, Islamisten und Terroristen um jeden Preis an der Macht halten will, und sei es um den Preis der Vernichtung großer Teile der eigenen Bevölkerung. Da ist Russland, das in Syrien seinen Brückenkopf im Nahen Osten hat und deshalb Assad stützt. Menschenrechte zählen für den russischen Präsidenten Wladimir Putin in diesem Konflikt noch weniger als im eigenen Land. Und da ist der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdo?an, der die syrischen Kurden niederhalten will, um jegliches Streben der türkischen Kurden nach Autonomie zu unterbinden. Deshalb sind türkische Truppen im Norden Syriens einmarschiert, vertreiben die Kurden und versuchen, in die Türkei geflohene Syrer dort anzusiedeln. Über Menschenrechte braucht man mit Erdo?an gar nicht erst zu reden. Er hat die Flüchtlinge im Land mit falschen Versprechungen an die Grenze zu Griechenland gelockt, um von Europa weitere Zugeständnisse zu erpressen. Zum einen verlangt der türkische Präsident den Beistand der Nato bei seiner Kriegsführung in Syrien, zum anderen sollen die Europäer ihn mit noch mehr Euro-Millionen dafür belohnen, dass er ihnen die Flüchtlinge auch künftig vom Hals hält. Die Griechen ihrerseits riegeln ihr Land stellvertretend für Europa mit Gewalt ab und setzen das Asylrecht einfach aus. „Außengrenzen schützen“ heißt dieser zynische Umgang mit verzweifelten Menschen im EU-Jargon.Nur einige Hundert Kinder Außerdem waren da auch mal die USA. Unter ihrem irrlichternden Präsidenten Donald Trump ziehen sie sich jedoch Schritt für Schritt aus ihrer jahrzehntelangen Rolle als Ordnungsmacht im Nahen Osten zurück. Das reiche Europa tut auch nichts. Zumindest sieht es so aus, als schaue es nur zu und belasse es bei Appellen an die bösen Buben in dem bösen Spiel. Doch wenn schon eine Konfliktlösung an den widerstreitenden Interessen scheitert, sollte Europa wenigstens zu einer schnellen humanitären Lösung bereit sein. Bislang – Stand Dienstag – scheut sich die Bundesregierung sogar, wenigstens die vielen tausend Kinder aus dem Elend an der Grenze und den griechischen Inseln nach Deutschland zu holen. Nur „einige Hundert“ sollen es sein, und auch nur, wenn andere EU-Mitglieder mitziehen. Es ist Skandal genug, dass ?eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, die mehr bedeutet als die Grenzen zu schließen, am Widerstand osteuropäischer Länder scheitert. Aber ein Mindestmaß an Menschlichkeit muss auch ohne gesamteuropäischen Konsens möglich sein. Alles andere ist Grund für kollektive Scham.