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Gesang aus voller Kehle

Morgen, Abend, Freude und Leid: Paul Gerhardt hat Lieder für alle Lebenslagen geschrieben. Eigentlich aber will er mit jedem Lied vor allem eins: zum Lob Gottes aufrufen

Paul Gerhardt ist bald schon 350 Jahre tot – sein Sterbejahr war 1676 –, seine Lieder aber sind lebendig wie eh und je. Es sind „Lebenslieder“. Sie ermuntern uns zu einem sorgenfreien, weil von Gott umsorgten Leben und geleiten uns so durch die verschiedenen Zeiten des Lebens, im Tageslauf wie im Jahreskreis, in guten wie in bösen Zeiten. Die Rezeptionsgeschichte hat etwa ein Sechstel des ursprünglichen Bestands von gut 130 Liedtiteln als „Evergreens“ herausgefiltert. Dem Geheimnis ihres Erfolgs bis heute sei an zwei Liedbeispielen nachgespürt.

Lieder für krasse Gegensätze

Die beiden wohl bekanntesten und am meisten gefragten Paul-Gerhardt-Gesänge fungieren als Lieder für krass entgegengesetzte Zeiten. Das eine (Geh aus mein Herz, EG 503) ist das unbeschwerte „Sommerlied“ schlechthin – so der ursprüngliche Titel! –, das andere (Befiehl du deine Wege, EG 361) der Gesang für Zeiten des Trauerns und Sorgens, leider oft nur noch bei Bestattungen angestimmt. Beide Lieder beginnen Gerhardt-typisch mit einem Appell, einer Selbstermunterung. Wie am Morgen „Wach auf, mein Herz“ jetzt „Geh aus, mein Herz – und suche Freud“.

Typisch für Gerhardt: die Selbstermunterung

Freude suchen, anschauend aufnehmen, was es alles Schönes gibt auf der Welt, das ist ein tragfähiges Lebenskonzept! Aber wenn das Nicht-Schöne sich aufdrängt, Leid oder gar der Tod vor Augen tritt? – Dann heißt es: „Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen.“ Dieses Psalmwort (Psalm 37, 5) ist Vorlage für Paul Gerhardts „Befiehl du deine Wege“, auch formal, indem die Anfangsworte der Strophen (im Gesangbuch kursiv gesetzt) als „Akrostichon“ das Psalmwort ergeben.
Beim „Sommerlied“ beschreibt Gerhardt in sieben Strophen so fasziniert das sommerliche Blühen des Lebens in der Schöpfung – alle Kreatur wird als höchst aktiv vorgestellt –, dass der Mensch in Strophe 8 darüber zwangsläufig ins Singen verfallen muss: Ich singe mit, wenn alles singt. Kreatürliches Leben ist selbst schon ein Singen. Alles, was lebt, lobt darin Gott, denn im Leben kommt Gottes Wirken zur Darstellung, nicht die menschliche Leistung.
„Du, du musst alles tun“, bezeugt Gerhardt an anderer Stelle (Strophe 7 von „Ich singe dir mit Herz und Mund“, EG 322). Die erst seit dieser Gesangbuchausgabe (1993) offiziell „akkreditierte“ Melodie zum „Sommerlied“, ursprünglich einem Volkslied zugewiesen, unterstreicht mit ihren quirligen Sechzehnteln das Vitale solchen Lebens. Aber sie verführt auch dazu, dass man sich mit dem faszinierten Genießen des Sommer-Lebens in den ersten Strophen begnügt und den entscheidenden Schritt zum Gerhardt-typischen Reflektieren unterlässt: „Ach, denk ich, bist du hier so schön …“ (Beginn Strophe 9).
Pendant zu den sieben Strophen Natur-Faszination sind sieben Strophen (9-15) Reflexion und Bitte. Das blühende Leben der Natur hat seine wesentliche Qualität als Gleichnis für das uns Christen erwartende ewige Leben. Dieses wird das irdische Leben an Vitalität, Wohlklang und Schönheit sogar noch überbieten. Ob solch unermesslicher Aussichten bleibt uns Christen schließlich nur, inständig und demütig in drei Strophen (13-15) zu bitten: „Hilf mir und segne meinen Geist …“ Dazu passt die Volkslied-Melodie allerdings nicht mehr so gut.
Auch bei „Befiehl du deine Wege“ ist die jetzige Melodie alles andere als selbstverständlich. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg,  seit dem Evangelischen Kirchengesangbuch EKG (ab 1950), wurde sie mit dem Lied verknüpft. Vorher war es meistens die heute mit dem Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ (EG 85) identifizierte oder auch die Dur-Melodie von „Valet will ich dir geben“ (EG 523). Gerade mit diesem Lied will uns Paul Gerhardt in schweren Lebenssituationen von der Fixierung auf das Leid befreien: „Hoff, o du arme Seele, hoff und sei unverzagt!“ (Strophe 6) Das singt sich überzeugender mit dem Aufschwung der Valet-Melodie.

Das Sorgen dem lieben Gott überlassen

Auch hier sind die Aussichten für uns sehr vollmundig formuliert: Ruhm, Dankgeschreie, Sieg, Ehrenkron, Freudenpsalmen (Strophe 11). In diesen zwölf Liedstrophen passiert inhaltlich so viel, dass es tatsächlich angemessen wäre – wie bei offenen Liedersingen öfters praktiziert –, die Melodien je nach Stropheninhalt zu wechseln. Der Standard-Strophenbau ermöglicht da vieles. Mit Strophe 7 das Sorgen „dem lieben Gott“ überlassen – das singt sich „munter und fröhlich“ am besten mit der Melodie von Lob Gott getrost mit Singen (EG 243): „Auf, auf, gib deinem Schmerze / und Sorgen gute Nacht, / lass fahren, was das Herze / betrübt und traurig macht; / bist du doch nicht Regente, / der alles führen soll. / Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl.“

Konrad Klek ist württembergischer Theologe, Professor für Kirchenmusik und Universitätsmusikdirektor an der Universität Erlangen sowie Präsident der Paul-Gerhardt-Gesellschaft.