Nachdem im Mittelalter christliche Gemeinschaften und Orden eine bedeutende Rolle in Kirche und Gesellschaft gespielt hatten, entdeckte die Reformation die Ortsgemeinde neu als bestimmende Sozialgestalt der Kirche. Familie und Beruf wurden die vorherrschenden Lebensformen evangelischer Christen, Kloster- und Gemeinschaftsleben spielte keine Rolle mehr. Es dauerte bis ins 19. und 20. Jahrhundert, bis wieder ein nennenswertes organisiertes evangelisches Gemeinschaftsleben entstand. Ein Beispiel dafür ist die Berneuchener Bewegung.
Nach dem Ersten Weltkrieg suchten viele Menschen nach neuen Wegen in Gesellschaft und der Kirche. Ihnen ging es um die Frage: „Wie muss eine Kirche und ihre Verkündigung aussehen, wie müssen ihre Gottesdienste und Lebensäußerungen beschaffen sein, um von den Menschen als echt erfahren zu werden?“
Zur Diskussion dieser Frage trafen sich ab 1923 auf Gut Berneuchen in der Neumark (im heutigen Polen) jährlich Leitende von Jugendgruppen und Jugendbünden, die sich in der gemeinsamen Verantwortung für die Erneuerung der Kirche verbunden wussten. Zu den Verantwortlichen zählten Karl Bernhard Ritter, Wilhelm Stählin, Oskar Planck, Anna Paulsen und (ab 1925) Paul Tillich.
Trotz unterschiedlicher religiöser Traditionen und auch politischer Einstellungen verstanden alle Teilnehmenden der Konferenzen Kirche nicht vordergründig als Institution, sondern als das lebendige Vermächtnis Jesu Christi. Dies äußerte sich in der Überzeugung, dass die Erneuerung der Kirche beim einzelnen Menschen beginnt, und führte zur Wiederentdeckung der christlichen Meditation.
Die Hinwendung zu Gottesdienst und gemeinsamem Gebet führte zur Feier der Liturgien der frühen Kirche, besonders des Tagzeitengebetes. Aus der Erkenntnis, dass die Frömmigkeit den ganzen Menschen umschließt, entwickelte sich eine neue Beachtung der Leiblichkeit in den Gottesdiensten, unter anderem in Gesten und Gebärden, Stille, Gesang, liturgischen Gewändern und Handlungen. Das Kirchenverständnis wurde in ökumenischer Verantwortung und Weite mit Leben gefüllt.
Bei Tagungen und Freizeiten wurden Stundengebet und evangelische Messe in der Praxis erprobt, und mit der Zeit entstand der Wunsch nach mehr Gemeinsamkeit und Verbindlichkeit. So formulierte Wilhelm Stählin eine christliche Lebensordnung. Nach dem Ort der jährlichen Konferenzen nannte sich diese Bewegung Berneuchener Kreis. 1938 musste der Name in Berneuchener Dienst (BD) verändert werden, weil die Nationalsozialisten die Bezeichnung „Kreis“ für ihre eigenen Gruppierungen reklamierten. Bereits 1931 hatten sich aus dem Berneuchener Kreis 22 Männer zur Evangelischen Michaelsbruderschaft (EMB) zusammengeschlossen, aus der dann im Jahr 1989 auch die Gemeinschaft St. Michael (GSM) entstand.
Diese drei Gemeinschaften treffen sich heute deutschlandweit und darüber hinaus – auch im Bereich der Evangelischen Kirche von Westfalen – in regionalen Konventen zu Stundengebet, Gottesdienst und Austausch. Begleitung und Seelsorge sind weitere wichtige Anliegen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war es ein tiefer Wunsch, ein eigenes Haus als gemeinsames Zentrum zu haben. Dies fand sich 1958 im ehemaligen Dominikanerinnenkloster Kirchberg bei Sulz am Neckar. Das Berneuchener Haus Kloster Kirchberg ist heute das gemeinsame geistliche Zentrum der drei Berneuchener Gemeinschaften und zugleich als Einkehr- und Tagungshaus ein Ort der Stille und Besinnung mit einem vielfältigen Kurs- und Tagungsangebot.
– Internet: www.berneuchener-dienst.de; www.michaelsbruderschaft.de; www.gemeinschaft-sankt-michael.de; www.klosterkirchberg.de.
Die Autorin, Pfarrerin Sabine Zorn (Unna), gehört der Gemeinschaft Berneuchener Dienst an. Bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand 2015 war sie 16 Jahre im Institut für Aus-, Fort- und Weiterbildung (IAFW) in Villigst tätig.