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“Gefahren, bis das Moped kaputtging”

Die Älteren in dem Dorf südlich von Mainz rümpften die Nase, als sich herumsprach, dass der ortsansässige Metzger irgendwann während der Wirtschaftswunder-Jahre seinen Laden für einige Tage schließen und Ferien machen würde. „Von unserem Geld fahren die in Urlaub, da brauchen wir nicht mehr hinzugehen“, erinnerte sich der Inhaber des Fleischerei-Geschäfts, Jahrgang 1935, Jahrzehnte später, wie damals im Ort geredet wurde. Bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg war es in Deutschland für die Menschen auf dem Land alles andere als selbstverständlich zu verreisen. Nicht nur die Feldarbeit und das eigene Vieh, sondern auch eine prinzipielle Lebenseinstellung sorgten bei der Generation der heute Hochbetagten dafür, dass bei ihnen keine Urlaubsstimmung aufkam.

„Meine Eltern sind in ihrem ganzen Leben einmal im Ausland gewesen“, berichtet Gunter Mahlerwein, Historiker an der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität. „Das war eine Fahrt mit der Feuerwehr in die Partnergemeinde im Burgund.“ Am Beispiel seiner Heimatregion Rheinhessen hat er nachgezeichnet, wie die Landbevölkerung ganz allmählich die Welt für sich entdeckte. Dafür studierte er alte Ansichtskarten, sichtete frühe Urlaubsfotos und Andenken. Außerdem wertete er zahlreiche Interviews mit älteren Einwohnern aus. Die Ergebnisse präsentieren Mahlerwein und seine Frau Christine Hach – natürlich – auf dem Dorf: In einer Sonderausstellung im kleinen Museum der Verbandsgemeinde Eich in Gimbsheim unter dem Titel „Reisefieber“.

Während Reisen nach dem Aufkommen von Eisenbahn und Privatautos für Städter zunehmend normal wurden, blieben sie auf dem Land das Privileg einer kleinen Oberschicht. Ende der 1950er Jahre gab bereits mehr als ein Viertel der Bundesbürger an, in den zurückliegenden zwölf Monaten mindestens eine Urlaubsreise angetreten zu haben. Doch in Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern lag der Anteil weniger als halb so hoch – und bei den in der Landwirtschaft tätigen Menschen sogar nur bei rund einem Prozent.

Nicht einmal Reisen zur Verwandtschaft seien verbreitet gewesen, sagt Mahlerwein. Denn die meisten Leute hätten ohnehin in der näheren Umgebung geheiratet. Reisen zu Besuchszwecken hätten dann nach dem Krieg Verbreitung gefunden, als sich Hunderttausende Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten im Westen ansiedelten und viele Familien weithin zerstreut wurden. Ein Schulkamerad aus Ostpreußen habe Verwandtschaft in der Nähe von Wuppertal gehabt, erinnert sich ein älterer Dorfbewohner. Dort sei die Familie aus Rheinland-Pfalz im Sommer für vier Wochen hingefahren: „Da hat man zum ersten Mal das Wort Ferien gehört.“

Für die Einheimischen auf dem Dorf waren Ausflüge mit Turn- oder Gesangsvereinen vielfach die erste Gelegenheit, aus der vertrauten Umgebung herauszukommen. Anfangs gab es vor allem organisierte Tagestouren, später aber auch Übernachtungsfahrten, beispielsweise in angrenzende deutsche Mittelgebirgsregionen oder ins Alpenvorland. In Gunter Mahlerweins Heimatort organisierte der besonders reisefreudige katholische Pfarrer schon Anfang der 1950er Jahre Busreisen nach Rom und in den südfranzösischen Pilgerort Lourdes. „Man fuhr in die Fremde, aber gemeinsam mit den Nachbarn“, fasst der Historiker diese Art des Reisens zusammen. Die Abfahrten der kleinen, eng besetzten Reisebusse waren anfangs ein Großereignis im Dorf.

Auch Kinofilme und Schlagerbranche weckten zunehmend das Fernweh und bei den Jüngeren den Wunsch, aus dem engen dörflichen Umfeld auszubrechen. Dass viele junge Leute wegen der schlechten Bus- und Bahnverbindungen schon früh ein eigenes Fahrzeug besaßen, war dabei hilfreich. „Wir sind einfach gefahren, bis das Moped kaputt war“, erinnert sich ein heute 80-jähriger Zeitzeuge aus Rheinhessen, „es gab keinen Plan, einfach los.“ Schließlich zogen auch immer mehr Angestellte und Arbeiter aus den Städten zurück auf das Land und brachten ihre Freude am Reisen mit. Vor rund 60 Jahren wurde ein Urlaub fernab des Heimatdorfes schließlich auch dort langsam zur Normalität.