Sie konnte weder hören noch sehen. Als Helen Keller etwa eineinhalb Jahre alt war, verlor sie wegen einer Erkrankung Gehör und Augenlicht. Sie fühlte sich in die „Unbewusstheit eines neugeborenen Kindes“ zurückversetzt, wie Keller in dem Buch „Geschichte meines Lebens“ schrieb. Sie schaffte es, aus diesem Zustand herauszukommen, studierte, wurde Autorin und Aktivistin. Vor 50 Jahren, am 1. Juni 1968, starb die US-Amerikanerin 87-jährig in Easton (Connecticut).
Verständigung mit einem Fingeralphabet
Geboren wurde sie am 27. Juni 1880 in Tuscumbia (Alabama). Die ersten 19 Monate ihres Lebens beschreibt Keller als glücklich. Sie habe „einen Schimmer von breiten, grünen Feldern, von strahlendem Himmel, von Bäumen und Blumen erhascht, den die nachfolgende Dunkelheit nicht ganz auslöschen konnte“, schreibt sie.
Nach ihrer Krankheit verständigte sich das Kind mit Gesten und dem Zeigen auf Gegenstände. Wie stark es mit seinem Schicksal haderte und wohl auch verzweifelt gewesen sein muss, offenbarten Wutausbrüche und Verhaltensauffälligkeiten. „Gebt mir Licht!“ – das sei der wortlose Schrei von Kellers Seele gewesen. Erhört wurde er, als sie kurz vor ihrem siebten Geburtstag 1887 eine Lehrerin ins Haus bekam: Anne Sullivan. Sie habe endlich den Nebel gelichtet, schreibt Keller.
Mit den Augen sah sie nie wieder – mit Hilfe eines Fingeralphabets, das Sullivan ihr beibrachte, konnte sie sich aber verständigen. Dabei buchstabierte Sullivan Wörter mit dem Finger in Kellers Hand. Bis das Kind verstand, dass diese Wörter reale Dinge bezeichneten, dauerte es. Erst, als Keller eines Tages die Hände unter fließendes Wasser hielt und Sullivan ihr dabei immer wieder das englische Wort „water“ in die Hand buchstabierte, begriff sie, was es damit auf sich hatte.
1890 lernte Keller mit Hilfe einer anderen Lehrerin, Sarah Fuller, zu sprechen. Keller beschrieb die aufwendige Methode so, dass Fuller ihre Hand leicht über ihr Gesicht legte und die Stellung ihrer Zunge und Lippen fühlen ließ, wenn sie einen Ton produzierte. Einbezogen wurden auch der Kehlkopf und seine Vibration. Keller war euphorisch – betont aber auch, dass ihre Sprache nur für wenige Menschen verständlich war.
Mit ihrem Rüstzeug, viel Zeitaufwand und Unterstützung betrieb Keller Studien und lernte Fremdsprachen. Sie beschäftigte sich mit der Bibel. Sie besuchte Schulen, hatte Einzelunterricht, nutzte die Blindenschrift und schrieb Prüfungen mit einer Schreibmaschine. Im Jahr 1900 ging Keller auf das Radcliffe College. Sie lernte mehrere Fremdsprachen, darunter Französisch und Deutsch, und machte 1904 ihren Bachelor-of-Arts-Abschluss cum laudew. Später erhielt sie mehrere Ehrendoktorwürden, unter anderem von der Harvard-Universität.
Ihr Leben scheint, trotz Phasen von Einsamkeit und Dunkelheit, erfüllt gewesen zu sein – auch dank der Menschen in ihrem Umfeld. Sie bildete sich, hatte Freunde, besuchte Theater und Museen, wo sie Schauspieler und Kostüme beziehungsweise Kunstwerke mit den Fingern ertastete.
Und auch dies war möglich: Dem Schriftsteller Mark Twain las sie mit Hilfe der Hände von den Lippen ab und schrieb über diese Begegnung: „Ich fühle das Zwinkern seines Auges in seinem Händedruck.“ Stimmungen von Menschen schien sie ebenfalls zu spüren, etwa, wenn sich deren Bewegungen veränderten: In den Händen von Menschen liege ein kalter „Nordoststurm“ – oder ein „erquickender Sonnenstrahl wie für andere in einem Liebesblick“.
Keller betrieb „Öffentlichkeitsarbeit“ für Blinde und kümmerte sich um Benachteiligte. 1915 gründete sie die gemeinnützige Organisation „Helen Keller International“, die bis heute Blindheit verhindern und Unterernährung reduzieren will. Auch hierzulande sind Schulen nach Keller benannt. Schätzungen zufolge leben in Deutschland bis zu 9000 Taubblinde.
Geschätzte 9000 Taubblinde in Deutschland
Kellers ungewöhnliches Leben bot Filmstoff: „The Unconquered“ bekam 1956 den Oscar als bester Dokumentarfilm. Für viele Menschen ist Keller ein Symbol dafür, wie man mit widrigen Umständen umgehen und sie vielleicht überwinden kann. Kellers Eifer und Wissbegierde können faszinieren. Bettina Trissia, Schuldirektorin im Deutschen Taubblindenwerk in Hannover, betont aber auch, dass es intensive Arbeit brauche – und Menschen, die sich gut um Taubblinde kümmerten. Keller sei aus ihrer Isolation geholt worden: „Sie ist wieder zu einem Menschen im sozialen Gefüge der Gesellschaft geworden.“
