Ob wir es wollen oder nicht: Öffnen wir in diesen Tagen unsere Social Media-Apps, sind wir konfrontiert mit dem Leid in Israel und Palästina. Bilder und Videos des Leides, der Trauer, der puren Verzweiflung. Verletzte und tote Kinder, weinende Väter und Mütter. Gerade jetzt stellt sich wieder die Frage: Wie umgehen mit solchen Bildern, die einem nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen? Jan Kingreen ist Pfarrer am Turm der Potsdamer Garnisonkirche und Friedensbeauftragter der Berliner Landeskirche. In unserem Interview-Format “Drei Fragen an” teilt er seine Erfahrungen und wirbt für den Gang in die Kirche – als Ort der Gemeinschaft und des Trostes.
Bei diesem Krieg wird besonders deutlich, wie Social Media Fluch und Segen sein kann. Wir erhalten schnell Infos, aber können kaum kontrollieren, was wir zu sehen bekommen. Wie können wir mit Bildern aus dem Krieg umgehen?
Jan Kingreen: Den 11. September konnten wir live im Fernsehen verfolgen. Heute sind wir live in Schützengräben dabei oder wir sehen, wie sich Hass und Vernichtungswillen in furchtbaren Gewaltexzessen entlädt. Wir wechseln vom Bericht in die Täter- oder Opferperspektive und sind viel dichter dran – zeitlich wie räumlich. Das alles 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche, meist überraschend und ohne Vorwarnung; TikTok und X sind voll davon. Nicht nur die Brutalität und Gewalt, sondern auch die große Fülle Desinformationen, Fake News oder aus dem Kontext gerissenen Videos stellen uns als Gesellschaft vor große Herausforderungen. Bis sich so etwas wie Medientraining als fester Bestandteil in all unseren Bildungsorten durchsetzt, hilft es schon, bei sich selbst anzufangen.
Ich kann ja entscheiden, ob ich mir das jetzt wirklich anschauen muss und dann gegebenenfalls weiter zum nächsten Clip zu wischen. Das gilt ja auch für das analoge Fernsehen oder die gedruckte Zeitung: Muss ich mir das jetzt wirklich anschauen? Kann ich das gerade tragen? Dass Bilder und Videos von Gräueltaten nach presseethischen Maßstäben im Kontext und kommentiert gezeigt werden, halte ich dennoch für sehr wichtig. Nur so wird ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für diese Taten geschaffen. Eine entsprechende Vorwarnung wäre allerdings notwendig.
Und Kinder und Jugendliche können wir vor diesen Bildern nicht abschotten, sondern wir müssen gemeinsam über die allgegenwärtigen Bilder sprechen und sie entsprechend sensibilisieren.
Warum nehmen uns die Bilder aus Israel so sehr mit?
Auch wenn es hart klingt und unfair ist: Einige Kriege und Katastrophen nehmen uns mehr mit als andere. Das haben wir bei dem Krieg in der Ukraine schon erlebt. Der Terroranschlag der Hamas weckt bei mir Erinnerungen an das Land, in dem ich selbst schon war, in dem ich Menschen kenne. Es sind Bilder von einem Land und seinen Menschen, die mir zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten bieten. Menschen, deren Lebenswirklichkeit ich teilen und nachvollziehen kann.
Und die Bilder aus Israel zeigen keinen bewaffneten Konflikt zwischen Soldatinnen und Soldaten, was fruchtbar genug anzusehen ist. Am 7. Oktober wurden wehrlose Menschen, auch Kinder und Kleinstkinder, wahllos getötet. Das macht mich immer noch fassungslos.
Inwiefern kann die Kirche helfen?
Die Kirche bietet den Ort an, an dem man zusammenkommt und das Erschrecken, die Sprachlosigkeit und Angst teilen kann. An dem man gemeinsam betet, trauert, bangt und hofft. Es müssen ja nicht immer viele Worte und Erklärungen sein; eine entzündete Kerze oder ein Psalm, der Trost spendet, hilft ebenso.