Artikel teilen:

Frei und unversichert

Die Wirtschaft Kaliforniens boomt, die Lebenshaltungskosten steigen. Viele Normalverdiener können sich keine Gesundheitsversorgung leisten. Karitative Organisationen und Kirchen versuchen, die Lücke zu schließen. Von Obamacare ist wenig übrig

Cary Bas Dechen, Pastor an der lutherischen Kirche des Kreuzes in dem Universitätsstädtchen Berkeley, sitzt an einem Schreibtisch voller Predigtmanuskripte und theologischer Bücher. In einem kleinen Bastkörbchen daneben liegen mindestens ein Dutzend Tablettenschachteln. „Ich bin seit 1989 HIV-infiziert. Schon als junger Mann bekam ich eine Krankheit, deren Behandlung sehr teuer ist. Ich habe nie so gedacht wie jemand, der keine medizinische Versorgung braucht. Ich war immer auf Unterstützung angewiesen.“

Der Solidargedanke ist nicht verbreitet

Pastor Dechen hat gerade einen Jahreshaushaltsplan redigiert, um ihn dem Sozialkomitee seiner Gemeinde vorzustellen. Es geht um die Finanzen einer Suppenküche, die seit einigen Jahren von dem Komitee gesponsert wird. „Manche Leute glauben, du willst ihnen etwas wegnehmen, wenn du sie bittest, anderen Menschen zu helfen. Sie haben diese Haltung: ‚Ich habe sehr hart für all das Geld gearbeitet, das ich habe. Weshalb sollte ich mehr Steuern zahlen, damit jemand anderes eine bessere Gesundheitsversorgung bekommt?‘ Diese Einstellung kann ich nicht wirklich verstehen, aber ich weiß, dass es sie gibt.“
Der Pastor trägt ein T-Shirt mit dem Logo einer Hardrock-Band. Die Musik beruhige seine Nerven im stressigen Alltag zwischen Sozialarbeit und Gemeindepflege. „Ich glaube, dass wir als Christen den Wert der Menschlichkeit ehren, wenn wir für unseren Nächsten sorgen. Jesus Christus war ein Freund der Ärmsten. Er hat denen zur Seite gestanden, die Hilfe brauchten. Er hat Menschen geheilt und gesagt: ‚Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.‘“
Doch diese Bibelstelle steht zur Zeit nicht besonders hoch im Kurs. „Unter den Christenmenschen der Vereinigten Staaten gibt es eine Fokussierung auf ihre persönliche Beziehung zu Gott und ihren Erfolg“, meint Pastor Dechen. „Die USA sind stolz darauf, dass hier ein paar Leute sehr, sehr, sehr viel – absurd viel – Geld verdienen. Ich sehe das anders. Wir sollten diese Wertschätzung der Gier loswerden. Sie ist furchtbar.“
Die letzte große Reform des öffentlichen Gesundheitswesens der USA liegt lange zurück. In den sechziger Jahren unter Präsident Lyndon  Johnson entstand das Medicare-Programm für Senioren und Medicaid für die Ärmsten. Seither gab es kein so ambitioniertes Reformprojekt des Gesundheitssektors wie Obamacare. Endlich sollten die zwanzig Prozent der Bevölkerung, die bisher keine Krankenversicherung hatten, einen günstigen Zugang ins Versorgungssystem bekommen. Offiziell heißt Obamacare „Affordable Care Act“, das Gesetz für eine bezahlbare Gesundheitsversorgung. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden Millionen US-Amerikaner verpflichtet, eine Krankenversicherung abzuschließen. Staatliche Subventionen sollten die Versicherungsprämien günstig halten. Die Beteiligung vieler gesunder Menschen sollte das System stabilisieren.
Doch als deutlich wurde, dass der Anteil älterer Menschen mit einer medizinischen Vorgeschichte unter den Versicherten besonders hoch war, zogen die drei größten Versicherungsfirmen der USA ihre Produkte aus dem Programm zurück. Noch ist es der Regierung Trump nicht gelungen, das Großprojekt seines Vorgängers rückgängig zu machen. Doch womöglich gelingt das durch die Hintertür. Ende 2017 hat der Kongress eine Steuerreform verabschiedet, die dem Affordable Care Act nach und nach die finanzielle Grundlage entzieht.

Obamacare-Patienten müssen hinten anstehen

Der Betriebswirtschaftler Gary Richmond verdient sein Geld damit, Menschen den Weg durch das Labyrinth der US-amerikanischen Gesundheitsdienstleister zu weisen. „Ich organisiere den Zugang der Kunden in den Gesundheitssektor. Zum Beispiel verabrede ich Termine beim Doktor, kommuniziere Versicherungsinformationen oder überweise Zahlungen. All das ist übertrieben aufwendig, mit unnötigen Zusatzkosten und Gebühren. Meiner Meinung nach ist es ein überkomplexes, korrumpiertes System.“
In diesem System müssen Obamacare-Patienten meist ganz hinten anstehen. Sie werden anders behandelt als privat Versicherte. Diagnosemethoden werden auf Grund des Preises und nicht auf Grund ihrer Genauigkeit ausgewählt. Kostspielige Therapien werden nicht verschrieben, auch wenn es gute Gründe gäbe, diese anzuwenden.
„Obamacare bietet Lösungen“, räumt Gary Richmond ein. „Aber die sind alles andere als perfekt. Es ist wunderbar, dass heute alle eine Versicherung haben können. Aber das hat nichts daran geändert, dass die eigentliche Entscheidungsgewalt weiterhin bei den Versicherungskonzernen liegt. Für sie ist die Gesundheitsversorgung zu allererst ein profitables Geschäft. Doch in Bezug auf Obamacare stellt sich die Frage: Wie kann man Geld verdienen, wenn man zwanzig Millionen Leute versichert, die kein Geld haben?“
Obamacare hat zwar den Zugang in die Arztpraxen geöffnet, aber am Ende muss der Patient doch einen großen Teil der Behandlungskosten selber tragen. Deshalb gibt es trotz Obamacare noch immer viele Menschen, die in Freien Kliniken nach Hilfe suchen. Einer der Patienten, die an diesem Abend in der Freien Klinik Berkeley warten, ist der 25-jährige Daniel. Er arbeitet Teilzeit als Aushilfslehrer, hat aber keine Krankenversicherung: „Als meine Mutter unerwartet pensioniert wurde, verlor sie ihre Krankenversicherung und somit auch ich meine. Ich weiß nicht, wie das mit den Versicherungen funktioniert. Ich versuche, möglichst nicht daran zu denken.“
Diese Haltung findet die junge Freiwillige Lisa verantwortungslos. Sie arbeitet im Empfang der Freien Klinik. „Er könnte aus der Tür gehen und plötzlich von einem Auto angefahren werden. Das wäre total bescheuert, denn er selbst könnte seine Behandlung sicher nicht bezahlen. Vielleicht würde er Unterstützung von seinen Eltern bekommen, aber die müssten ihre Rentenkasse plündern. Und dann? Es gibt kein Sicherheitsnetz für Leute, denen unerwartet etwas Schlimmes passiert. Das gilt hier als normal. Es kommt oft vor, dass jemand nach einer Operation Jahre braucht, bis er die Krankenhauskosten zurückgezahlt hat.“
Daniel wohnt bei seiner Mutter in der Stadt Oakland. Eine eigene Wohnung kann er sich nicht leisten, genauso wenig wie eine private Krankenversicherung. Dabei ist er Lehrer. Lisa findet das absurd: „Schlimm, wenn sich ein Lehrer die Miete nicht leisten kann in der Stadt, in der er unterrichtet. Aber wenn es keine Lehrer mehr gibt, was dann? Das alles ist irgendwie verrückt.“

Irgendwann braucht jeder mal einen Arzt

Doch das US-amerikanische System verspricht Freiheit und dieses Versprechen hat viele kluge Köpfe aus aller Welt in das Einwanderungsland USA gelockt. So jedenfalls sieht es Yu Huning, ein Biochemiker, der vor zwanzig Jahren nach Kalifornien gezogen ist. „Als das mit Obamacare angefangen hat, musste ich plötzlich das Doppelte an Versicherungsprämien zahlen“, ärgert er sich. „Viele Leute werden dazu gezwungen, eine Versicherung zu kaufen, obwohl sie wissen, dass sie gesund sind.“
Lisa hat Verständnis für den Wunsch nach Freiheit. Aber die Forderung, deshalb Obamacare abzuschaffen, geht ihr zu weit: „Dieser Freiheitsgedanke mag typisch US-amerikanisch sein, und er hat uns als Land wohl auch sehr erfolgreich gemacht. Aber der Erfolg fühlt sich sehr zerbrechlich an. Wir stehen nicht auf festem Boden. Die Gesundheitsversorgung ist eines der offensichtlichsten Beispiele. Irgendwann im Leben braucht jeder mal einen Arzt.“