Ein 17-jähriger Schüler verliert seinen Vater und versucht mit den wechselnden Zuständen von Trauer, Schmerz und Wut umzugehen.
“Der Gymnasiast” von Christophe Honore ist eine Art Katalog möglicher Reaktionen auf den Verlust eines geliebten Menschen. Der 17-jährige Schüler Lucas (Paul Kircher) verliert seinen Vater durch einen Autounfall. Das ist schwer zu ertragen, selbst wenn immer eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen stand. Das französische Drama “Der Gymnasiast”, das das rbb Fernsehen am 25. Juli ab 23.35 Uhr zeigt, taucht ein in die Welt der Trauer des jungen Mannes.
Die Situation ist schwer für ihn, aber auch für seine Mutter Isabelle (Juliette Binoche). Sein Bruder Quentin (Vincent Lacoste) hat es vielleicht etwas leichter. Er wohnt nicht mehr bei ihnen auf dem Land, sondern arbeitet in Paris an seiner Kunstkarriere.
Doch wie begegnet Lucas dem Tod? Mit Überraschung und Überforderung. Sein Alltag implodiert. Zuvor hat er sich auf Schulprüfungen vorbereitet und mit seinem Freund Oscar (Adrien Casse) herumgealbert. Alles war so normal, wie es eben sein kann. Dann plötzlich ernste Gesichter, betretenes Schweigen, schreckliche Ahnungen und schreckliche Gewissheit. Schulprüfungen scheinen nicht mehr so wichtig.
Es folgt Taubheit. Immer wieder vergehen lange Phasen ohne klare Gefühlsregung. Die Kamera ist so nah, dass man sich wundert, nicht doch etwas erspüren zu können. Aber sie filmt nicht automatisch mit, was unter der Haut vorgeht, im Kopf und im Herz. Wer zeigen will, was ein Mensch verbirgt, zeigt besser, was ihn umgibt. Das Licht, den Raum. Die Handkamera von Remy Chevrin ist gefühlt immer da.
Dann mit Ritualen, mit erzwungener Ordnung also. Tote verwandeln sich immer auch in Verwaltungsakte, in Bürokratie, in Unterschriften und Scheine. Es gibt eine Trauerfeier, danach einen Leichenschmaus. Weil die Welt nicht für den eigenen Schmerz anhält, beginnen Menschen, sich beim Essen über Politik zu streiten. Quentin lädt seinen jüngeren Bruder nach Paris ein. Er soll auf neue Gedanken kommen, andere Dinge erleben, ein paar Museen besuchen.
“Der Gymnasiast” ist kein Film mit eleganter Struktur. Er hat kein klares Ziel, keine zentralen Durchbrüche, nicht einmal die Ordnung psychologischer Trauermodelle. Sondern vor allem viele Einzelmomente. Ein ewiges Vor und Zurück, Auf und Ab, Hin und Her. Immer wieder glaubt man fälschlicherweise, der Film wäre vorbei. So muss es auch mit der Trauer sein.
Lucas prügelt sich mehrfach mit seinem Bruder, mit jener liebevollen Grausamkeit, die nur Brüder füreinander übrighaben. Man kennt jeden Knopf, jede Unsicherheit. Man hat mit diesem Fressfeind sein Leben lang am Tisch gesessen und liebt ihn so sehr, wie man ihn manchmal hasst.
Schließlich kommt der Sex. In einer traumschönen Szene schlafen Oscar und Lucas miteinander, in blaues Licht gehüllt. Es ist der letzte Abend, bevor er nach Paris geht. Die Kamera saugt die Lust aus den Gesichtern. Sich lebendig fühlen gegen den Tod. “La petite mort” gegen den großen, bösen Bruder.
Den Tod überspielen, wegsingen, im Familienbund oder allein. Nach der Trauerfeier liegen Isabelle, Quentin und Lucas kraftlos herum. Sie hören Stücke, die sie an den Vater erinnern. Sie tanzen, lächeln halb. Trauer ist nicht immer und überall, wie es schlechte, in die eigene Schwere verliebte Dramen zeigen, sondern kommt in Wellen. Sie wabert, lähmt, sticht ins Herz.
Ein Voiceover von Lucas ordnet den Film. Irgendwann wird deutlich, dass er mit seinem toten Vater spricht. Nicht, als wäre der eine abstrakte Idee, sondern als stände er direkt vor ihm oder könnte zumindest jeden Moment zur Tür hineinkommen. Manchmal beschreibt Lucas Szenen, die man gerade sieht. Eigentlich redundant; Drehbuchratgeber würden abraten, aber es leuchtet doch ein. Lucas steht neben sich, ganz konkret, er erlebt die Ereignisse von außen.