Artikel teilen

Forscherin: Dating-Apps verstärken soziale Vereinsamung

Unter ihren Studierenden ist sie als “Dr. Tinder” bekannt: die Flensburger Sozialpsychologin Johanna Degen. Anfangs durchaus angetan von Dating-Apps, fürchtet sie inzwischen, dass deren Nutzer das wahre Leben verpassen.

Dating-Apps verstärken nach Angaben der als “Dr. Tinder” bekannten Sozialpsychologin Johanna Degen digitale Vereinsamung und schwächen Beziehungskompetenz. Die Forscherin von der Europa-Universität Flensburg erklärt im Interview mit der “Neuen Zürcher Zeitung” (Donnerstag online), dass Nutzer von Dating-Apps Gefahr liefen, zu verpassen, sich “das Leben anzueignen”.

“Als Menschen früher auf der Partnersuche waren, mussten sie aktiv werden: Sie sind vielleicht auf Konzerte gegangen, haben die Nächte durchgetanzt, nachts betrunken einen Döner verdrückt oder waren auf einer Weinverkostung – und fühlten sich am nächsten Tag elend und verkatert”, so die Paartherapeutin. Auch wenn sie dann keinen Partner gefunden hätten, so hätten sie ihr Leben gelebt. “Schauen sie in zehn Jahren auf diese Zeit zurück, so haben sie eben keine Beziehung gehabt, aber Erlebnisse.” Hingegen würde sich niemand in zehn Jahren gern an Wochenenden zurück erinnern, an denen er auf Tinder durchgeswipt habe.

Degen berichtet, sie habe zu Beginn ihrer Forschung 2017 zunächst eine pragmatische Einstellung zu Dating-Apps gehabt. Doch inzwischen ist sie der Meinung, dass es keinen positiven Effekt auf das Wohlbefinden habe, Zeit mit Dating-Apps zu verbringen – “eher im Gegenteil”. Dating-Apps sind der Wissenschaftlerin zufolge nur vermeintlich soziale Instrumente mit einer eigenen Logik und eigenen Regeln, die viele Menschen verletzen und erschöpften.

Parasoziale Beziehungen seien beispielsweise einseitig – wenn Nutzer etwa Menschen und Influencern bei der Social-Media-Plattform Instagram folgten, “ohne aber selbst einmal im Fokus zu stehen”. Degen sagt: “Und so lernen wir aus der digitalen Welt: Beziehungen dürfen einseitig sein. Mehrere Personen gleichzeitig zu daten und mit ihnen zu flirten, ist normal.” Mehrgleisigkeit sei heutzutage dank Dating-Apps Standard geworden. Das habe jedoch einen hohen Preis: Viele Menschen gingen nur noch ein geringes emotionales Risiko ein.

“Dating soll heute möglichst wenig Zeit, Aufwand, Geld und Emotionen kosten”, kritisiert die Forscherin. Man treffe zwar Leute, aber die Spannung und das Besondere gingen verloren – Masse statt Klasse. Degen zufolge gipfelt dieses Datingverhalten häufig in bedeutungslosem Sex. “Deshalb geht es heute so viel um irgendwelche sexuellen Techniken, weil die Menschen denken, das schöne Erlebnis könne man durch Technik herstellen”, sagte Degen.

Das Unbewusste, das Mystische, Gewaltige, das gar nicht Aussprechbare, was Liebe ist, das sei aber in Wahrheit unbeantwortet. “Und wir suchen Partner nach Checkliste und versuchen mit quantitativen Maßnahmen qualitative Merkmale zu bekommen.” Diese Logik von Beziehungen verändere auch das Verhalten im analogen Leben: “In Beziehungen fragen sich die Leute: Ist es fremdgehen, wenn mein Partner noch einen Tinder-Account hat?”, so Degen. Es müssten ganz neue Normen ausgehandelt werden.

Johanna Degen leitet seit 2019 das Forschungsprojekt “Tinder: Profiling the Self”; ihre Studienzusammenfassung “Swipe, like, love” ist gerade als Buch erschienen. Sie lässt neben all der Kritik jedoch auch positive Auswirkungen gelten: So könnten digitale Apps Einsamkeit entgegenwirken. “Man kann Dating-Apps positiv und gewinnbringend nutzen, und einer bestimmten Gruppe Nutzer gelingt das auch, die finden ihre Partner”, sagt die Wissenschaftlerin.

Was wir aus den Apps machten, liegt laut Degen zu großen Teilen an uns selbst. “Wenn ich Instagram nutze, um ein Rezept herauszusuchen, das ich mit meiner Freundin koche, dann hat das keinen negativen Effekt. Aber wenn ich nur auf dem Sofa liege und scrolle und mir Rezepte anschaue, die ich niemals koche, dann hat das einen negativen Einfluss auf das Wohlbefinden”, nennt sie ein Beispiel.

“Dr. Tinder” Johanna Degen empfiehlt, sich beim Online-Dating nicht hinter einer Fassade zu verstecken: “Wir wissen aus unseren Daten: Besonders erfolgreich neben den ganz Schönen sind diejenigen, die sich etwas trauen und ihre Persönlichkeit und auch Verletzlichkeit zeigen.” Um eine echte Begegnung zu finden, müsse man sich preisgeben.