Peinliche Frauen und rebellische Männer? Bestimmtes Konsumverhalten von Frauen wird oft als peinlich empfunden, während es bei Männern als cool gilt. Forscher haben dieses Cringe-Empfinden untersucht.
Sie trägt Leggings, fährt einen SUV, trinkt aus einem Stanley Cup in roségold und postet das unter dem Hashtag #stayhydrated: In den Augen mancher junger Social-Media-Nutzer wird sie dadurch zum Inbegriff des “Cringe”.
Cringe – das Gefühl des Fremdschämens – “beschreibt in diesem Kontext eine Mischung aus Anregung und Abstoßung, Lust und Scham und ist längst zum popkulturellen Urteilsspruch geworden”, erklärt Sprachwissenschaftlerin Theresa Heyd von der Universität Heidelberg. Aber es trifft demnach nicht alle gleich. Wer sich in den Kommentarspalten von TikTok oder Twitter umsieht, merkt schnell: Besonders weiblich gelesener Konsum ist verdächtig. Verdächtig affektiert, übertrieben, künstlich. Kurz: cringe.
Was bedeutet das eigentlich, wenn Konsumverhalten als cringe bewertet wird? Heyd beschäftigt sich mit genau dieser Frage. Gemeinsam mit der Kulturwissenschaftlerin Heide Volkening von der Uni Greifswald forscht sie zu sogenannten guilty pleasures (schuldigen Vergnügen) und Cringe-Kultur. Und ihre bisherigen Erkenntnisse lassen den Schluss zu: Was als peinlich gilt, ist nicht zufällig, sondern sozial und kulturell tief codiert.
Besonders bei weiblich konnotiertem Konsum werde diese Ambivalenz aus Affektion und Ablehnung spürbar, so Heyd: “Der Stanley Cup zum Beispiel – funktional, umweltfreundlich, langlebig – wird zur Zielscheibe, sobald er in einer pastellfarbenen Limited Edition auftaucht und im Auto der Momfluencerin steht.”
Es gehe dabei nicht um den Gegenstand an sich, sondern um die Inszenierung. Um das zur Schau gestellte Bedürfnis nach Schönheit, Ordnung, Selbstpflege – Dinge, die in weiblichem Kontext oft abgewertet werden.
Schlussfolgerungen, die sich beispielsweise mit den Ergebnissen der aktuellen FAIR-Studie des Fraunhofer-Instituts decken. Darin wurde untersucht, wie stark das Konsumverhalten von Jugendlichen durch Influencer-Marketing und Soziale Median beeinflusst wird. Die Forscher fanden heraus: Insbesondere Mädchen fühlen sich stark von der Ästhetik und Lebensweise ihrer Idole angezogen – und geraten dadurch in Konsumspiralen, die stark von sozialer Zugehörigkeit und Inszenierung abhängen. Der Wunsch nach dem richtigen Produkt – ob Hautpflege oder Becher – wird so zum Mittel der Selbstvergewisserung.
Und das setze sich vom Teenager bis ins Momfluencer-Alter fort, erklärt Theresa Heyd: Die öffentliche Bühne der sozialen Medien ist nicht neutral. Weibliche Selbstinszenierung wird schneller als oberflächlich, eitel oder eben cringe wahrgenommen. Ein Mann mit Tesla Cybertruck? Innovativ. Eine Frau mit Duftkerze, Yogakurs und Monatsjournal? Peinlich.
Ein weiteres Beispiel seien romantische Sprüche oder Gedichte, sagt Heyd. “Poste ich das als Frau, ist das kitschig. Wäre ich ein Mann, wäre das deep.”
Es gehe wie bei Verhaltensweisen auch immer um Gendernormen, beziehungsweise um Erwartungen daran, wie sich Frauen zu verhalten haben – und was als gesellschaftlich gutiert gilt. Konsum, der aus weiblicher Perspektive heraus betrieben wird, wird oft mit Oberflächlichkeit assoziiert. Das zeige sich auch bei Kulturprodukten: Ein Buch über die sexuelle Selbstfindung einer 45-jährigen Frau wie “All Fours” von Miranda July? Schnell als schamlos oder “cringe” abgestempelt. Der zehnte Männer-Podcast über Muskelaufbau und Finanzen? Geht durch.
Heyd und Volkening nennen das die “Abwertung weiblicher Selbstinszenierung als exzessiv” – während männliche Entsprechungen oft als ernst, rebellisch oder gar genial gelten.
‘Nicht so, wie man sich benehmen sollte’ – dieser Maßstab wird insbesondere an Weiblichem angelegt. Die Forschung zeigt, dass nicht nur die Medienkritik, sondern auch der algorithmische Humor sozialer Netzwerke bestehende Machtverhältnisse verstärken: Frauen, die sichtbar konsumieren, posieren oder gar Lust zeigen, stehen demnach schneller am digitalen Pranger.
Tatsächlich sage das Cringe-Urteil aber oft mehr über die aus, die andere beurteilen. “Denn was wir peinlich finden, sagt viel darüber aus, wem wir es erlauben, sichtbar zu sein – und wem nicht”, meint Theresa Heyd.