Artikel teilen

Forscher sehen biologische Vielfalt in Deutschland gefährdet

Bislang gibt es in Deutschland keine systematische Erfassung der biologischen Vielfalt. Das soll sich ändern, fordern Forscher. Ihr Bericht zeigt, dass der Artenreichtum schwindet und Lebensräume bedroht sind.

Die biologische Vielfalt in Deutschland ist nach Einschätzung von Wissenschaftlern stark gefährdet. Über die Hälfte der unterschiedlichen Lebensräume sei in einem ökologisch ungünstigen Zustand, und immer noch verschwänden wertvolle Biotope. Das führt dazu, dass auch die Zahl der Tier- und Pflanzenarten sowie ihre genetische Vielfalt abnehmen. Ein Drittel aller untersuchten Arten sind gefährdet, etwa 3 Prozent gelten als ausgestorben.

Das geht aus dem am Montagabend veröffentlichten “Faktencheck Artenvielfalt” hervor. Es ist nach Angaben seiner Autoren die erste umfassende Bestandsaufnahme der Biodiversität in Deutschland. Etwa 140 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben den Stand des Wissens für die Hauptlebensräume Agrar- und Offenland, Wald, Binnengewässer und Auen, Küsten und Küstengewässer, Böden und urbane Räume zu einem mehr als 1.000 Seiten umfassenden Bericht zusammengetragen. Über 6.000 Publikationen und 15.000 Zeitreihen wurden ausgewertet. Finanziert wurde die Studie vom Bundesforschungsministerium.

Insgesamt 60 Prozent der 93 definierten Lebensraumtypen zeigen einen unzureichenden oder schlechten Erhaltungszustand und rückläufige Entwicklungstendenzen. Besonders besorgniserregend ist die Situation im Grünland, also auf ehemals artenreichen Äckern, in Mooren, Moorwäldern und Sümpfen. Mehr als die Hälfte der Meeres- und Küstenlebensraumtypen der Nord- und Ostsee sind langfristig gefährdet.

Der schlechte Zustand vieler Lebensräume hat Folgen auch für die Tier- und Pflanzenwelt: Ein Drittel der untersuchten Arten ist in ihren Beständen gefährdet. Von den etwa 72.000 in Deutschland einheimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten wurden bislang etwa 40 Prozent auf die Gefährdung ihrer Populationen hin untersucht. Fast ein Drittel dieser Arten sind bestandsgefährdet, das heißt, vom Aussterben bedroht oder stark gefährdet; etwa 3 Prozent gelten bereits als ausgestorben. Stark gefährdet sind insbesondere viele Reptilien- und Amphibienarten sowie zahlreiche Insektenarten und andere Gliedertiere.

Der Faktencheck Artenvielfalt dokumentiert auch eine Reihe von positiven Entwicklungen, die zeigen, dass sich biologische Vielfalt durch gezielte Maßnahmen erholen kann. So hat sich beispielsweise infolge der Abwasserreinigung seit 1970 die Vielfalt der wirbellosen Tiere – Schnecken, Muscheln, Würmer, Insekten – in Fließgewässern großflächig erholt. Ebenso wird die starke Zunahme der Waldvögel seit 2010 mit einer Verbesserung der Waldstruktur in Verbindung gebracht.

Die Autoren betonen, dass biologische Vielfalt kein Luxus sei. Die Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Bürger hänge stark von der Leistungsfähigkeit von Wäldern, Gewässern oder Böden ab.

Die Autoren beklagen, dass es bislang in Deutschland keine systematische Erfassung der biologischen Vielfalt oder der Erfolge von Fördermaßnahmen gebe. “Gleichzeitig wird in kaum einem Land so viel zur biologischen Vielfalt geforscht und erhoben wie in Deutschland.”

Die Wissenschaftler befassen sich in ihrer Studie auch mit der Frage, wie der negative Trend gedreht werden kann. Am vielversprechendsten sei die Extensivierung der Land-, Gewässer- und Meeresnutzung, betonen sie. Wirtschaft, Waldbesitzer, Landwirte und Fischerei müssten neue Formen des Wirtschaftens entwickeln, die Ökonomie und Ökologie miteinander verbinden.

An die Politik gerichtet, sagte der Co-Leiter des Faktenchecks, der Wittenberger Biologe Helge Bruelheide, es gebe genügend Instrumente für mehr Biodiversität, etwa die gemeinsame Agrarpolitik, Richtlinien für Wasserschutz, Vogelschutz oder die Meeresstrategie-Richtlinie. “Nur sind diese Instrumente nicht unbedingt gut aufeinander abgestimmt.”

Voraussetzung für einen Wandel ist nach Einschätzung der Autoren auch, dass Bürger die Bedeutung von biologischer Vielfalt vermittelt bekommen und selbst erleben. So betonte die Frankfurter Geoökologin Marion Mehring, dass die Gartenfläche in Deutschland in etwa auch der Fläche der Naturschutzgebiete gleichkomme. Jeder Gartenbesitzer könne deshalb durch naturnahere Gestaltung seines Gartens Einfluss auf die Artenvielfalt nehmen.