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Forscher erwarten starken Anstieg bei Beihilfe zur Selbsttötung

Wenn es um Beihilfe zum Suizid geht, befindet sich Deutschland in einer Grauzone. 900 Menschen haben 2023 Hilfe zur Selbsttötung in Anspruch genommen, sagen Sterbehelfer. Die Zahlen dürften künftig deutlich steigen.

Mehr als 10.000 Suizide gab es 2023 in Deutschland. Darunter rund 900, bei denen lebensmüde oder sterbenskranke Bürger die Hilfe von Sterbehelfern in Anspruch genommen haben. Letzte Zahlen stammen von den drei Sterbehilfeorganisationen, die in Deutschland aktiv sind. Verlässliche Statistiken gibt es nicht. Experten gehen von großen Dunkelfeldern und weiter steigenden Zahlen beim sogenannten assistierten Suizid aus.

Damit mehr Licht ins Dunkel kommt, hat am Donnerstag ein bundesweites, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstütztes Forschungsnetzwerk “Suizidassistenz” seine Arbeit aufgenommen. In den kommenden drei Jahren sollen Wissenschaftler und Praktiker aus Bereichen wie Medizin, Psychologie und Pflege zentrale Fragen im Umfeld des assistierten Suizids beantworten.

Welche Dimension das Thema bekommen könnte, zeigten Vergleichszahlen aus anderen Ländern. Die Wissenschaftler verweisen darauf, dass sich in der Schweiz mittlerweile zwei Prozent und in Kanada vier bis fünf Prozent der Sterbefälle durch Beihilfe zur Selbsttötung ereignen – zusätzlich zu den nicht-unterstützten Selbsttötungen. Würde man die Zahlen aus der Schweiz auf Deutschland übertragen, käme man auf rund 20.000 Fälle pro Jahr, wie es hieß.

Hintergrund ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020. Die Karlsruher Richter formulierten ein weitreichendes Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Seitdem dürfen Sterbehilfeorganisationen wieder Suizidbeihilfe anbieten. Zugleich ermunterten die Richter aber den Gesetzgeber, einen rechtlichen Rahmen zu entwickeln. Es müsse verhindert werden, dass Menschen die Entscheidung zum Suizid vorschnell, auf äußeren Druck oder aufgrund einer Depression treffen. Im Sommer 2023 konnte sich der Bundestag nicht auf eine Regelung einigen. Alle drei parteiübergreifenden Gesetzentwürfe sahen Beratungspflichten, Schutzfristen und ein Vier-Augen-Prinzip bei den Ärzten vor.

Bis sich der Bundestag einigt, findet das Thema assistierter Suizid in Deutschland quasi in einem Graubereich statt. “Bislang fehlt es weitgehend an wissenschaftlich gestützten Verfahren, wie mit Anfragen nach Suizidassistenz, die in ganz unterschiedlichen Lebenssituationen und aus sehr verschiedenen Motiven entstehen, verantwortungsvoll umgegangen werden kann”, erklärte der Sprecher des Netzwerks, Jan Schildmann, am Donnerstag in Halle.

Die Wissenschaftler wollen sich unter anderem damit beschäftigen, welche Art von Aufklärung und Beratung Menschen erhalten sollen. Betroffene müssten etwa alle Informationen über Handlungsalternativen erhalten. Zentral ist außerdem die Frage, ob es Kriterien dafür gibt, dass ein Suizidwunsch wirklich freiwillig geäußert wird. “Die Assistenz zur Selbsttötung ist angesichts der Tragweite für die Betroffenen, ihre Angehörigen, aber auch für die Gesellschaft ein kontrovers diskutiertes Thema, das tiefgreifende ethische und darüber hinaus gehende Fragen aufwirft”, sagt Medizinethiker Schildmann.

Nach seinen Worten stellen sich auch drängende Fragen nach den Aufgaben, die Angehörige der Gesundheitsberufe dabei übernehmen und welche Rollen sie explizit nicht einnehmen sollen. Auch Pflegekräfte in Heimen und Kliniken werden oft mit Suizidwünschen konfrontiert. So zeigt sich laut Schildmann in der Schweiz gerade, dass die Sterbehilfeorganisationen mit dem Anstieg der Suizidbitten überfordert sein könnten. Würde dann das Gesundheitssystem einspringen? Auch in Deutschland gibt es viele Ärzte, die das Heilen und Mindern von Leid als ihre Aufgabe ansehen – aber nicht die Beihilfe zur Selbsttötung.

Die Arbeit im Netzwerk knüpft an eine Reihe aktueller bundesweiter Initiativen zu diesem Thema an. Dazu gehört eine Analyse mehrerer Landesärztekammern, die im Sommer Daten zur aktuellen Handlungspraxis am Lebensende erhoben haben. Darüber hinaus ist jüngst der Startschuss für die Entwicklung einer nationalen Leitlinie gefallen: Angehörige verschiedener Gesundheitsberufe sollen Hinweise darauf erhalten, wie sie mit Suizidwünschen umgehen.