Artikel teilen

Flucht vor Luftangriffen – Familien suchen Schutz in Beirut

Israelische Aufklärungsdrohnen kreisen fast jeden Tag über Beirut. Am gefährlichsten wird es für die Menschen in der Nacht. Aus den südlichen Vororten sind viele geflohen – ohne zu wissen, wohin.

Callie ist ein Blickfang. Mit ihren hellleuchtenden Augen und dem weichen, weißen Fell liegt sie auf der Kofferraumabdeckung eines kleinen Geländewagens. Das Auto ist an einer großen Straße geparkt, rechts das Meer, links das Stadtzentrum von Beirut.

Ali, Callies Besitzer, hebt stolz zwei weitere Katzen aus dem Fenster der Fahrerseite: “Cherry und Sassy”, sagt seine Frau Adeline. Die beiden Ragdoll-Katzen mit den etwas platten Gesichtern setzt Ali auf die dünne Matratze, die auf dem Gehsteig neben dem Auto liegt. Seit über einer Woche ist sie sein nächtlicher Schlafplatz.

Am 26. September – in der Nacht, bevor Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah von einem Luftschlag des israelischen Militärs getötet wird – verlassen Ali und Adeline, die nur ihre Vornamen nennen, die gemeinsame Wohnung in Chiyah, einem Teil der zusammengefasst Dahiyeh genannten südlichen, schiitisch geprägten Vorstädte Beiruts. Schon damals sind die Luftangriffe in den südlichen Vororten bis nach Beirut zu hören. Seitdem schläft Adeline mit den drei Katzen im Auto und Ali unter dem warmen Himmel der letzten Sommernächte Beiruts.

Adeline stammt von den Philippinen, Ali ist schiitischer Muslim. Sie treffen sich im Libanon, heiraten auf den Philippinen, bleiben erst dort und entscheiden sich doch für die Rückkehr nach Beirut. “Das Nachtleben, das Wetter, die Menschen”, sagt Adeline.

Ali trinkt ans Auto gelehnt Bier aus einer Dose und raucht eine Zigarette nach der anderen, während Adeline erzählt: Ihr Versuch, eine Wohnung in einem sicheren Viertel der Hauptstadt zu finden, sei an den Konditionen der Vermieter gescheitert. Viele wollen gleich einen Vertrag für ein ganzes Jahr vereinbaren, verlangen mehrere Monatsmieten im Voraus. Finanziell sei das nicht möglich, sagt sie. Auch, weil ihr Einkommen als Putzkraft mit Beginn der jüngsten Eskalation versiegt ist.

Viele Familien haben Beirut, vor allem den Süden der Stadt, verlassen. Andere haben ihre Jobs verloren und müssen sparen. In Südbeirut ist das Leben dieser Tage zum Erliegen gekommen, die meisten Zivilistinnen und Zivilisten haben die Gegend verlassen, die Geschäfte bleiben geschlossen.

In Beirut gilt vor allem der christlich geprägte Ostteil der Stadt als sicher. Dass die Hisbollah dort über Infrastruktur verfügt oder ihre Mitglieder sich länger dort aufhalten, halten die meisten Bewohner der Stadt für unwahrscheinlich. Wer hier in einer Wohnung unterkommt, hat großes Glück.

Ihr Tagesablauf, erzählt Adeline, sehe so aus: Am Morgen, gegen 8 Uhr, fahren Ali und sie in ihre Wohnung nach Chiyah. Sie duschen, Adeline macht die Wäsche. Gegen Mittag beginne meist das Surren der israelischen Aufklärungsdrohnen, die den Rest des Tages über Beirut kreisen. Dann packen sie die Katzen wieder in ihre Transportboxen und fahren zurück in die relative Sicherheit Nordbeiruts.

Auch dort ist die Drohne an den meisten Nachmittagen zu hören – aber das Risiko für einen Luftangriff bisher sehr viel geringer. Um am Nachmittag und in der Nacht auf die Toilette zu gehen, besuchen sie einen nahen McDonald’s.

Im Raum Beirut kristallisieren sich bisher zwei Arten von Angriffen des israelischen Militärs heraus: Manche erfolgen ohne Vorwarnung und zielen auf bestimmte Personen ab. Solche Angriffe erfolgen relativ genau und sind von begrenztem Umfang. Doch auch dabei können Zivilistinnen und Zivilisten verletzt und getötet werden.

Dann gibt es die Angriffe, vor denen eine Warnung erfolgt: Meist gegen Mitternacht gibt der arabischsprachige Sprecher des Militärs eine erste Evakuierungsanordnung heraus, für bestimmte Gebiete in Südbeirut. Laut Militär gelten sie der Infrastruktur der Hisbollah. Im Laufe der Nacht kommen oft weitere Anordnungen hinzu. Zwischen der Evakuierungsaufforderung und dem ersten Luftschlag vergeht meist etwa eine halbe Stunde. Mit dem Sonnenaufgang geht zumindest bisher diese Art der Angriffe zu Ende.

Die Nächte sind am gefährlichsten. Deshalb nimmt Ali es in Kauf, auf einer Matratze auf dem Gehsteig zu schlafen, und Adeline mit den drei Katzen auf der Rückbank des Autos. Dann stapelt sich neben ihr das Nötigste: Wasserflaschen, Taschentuchpackungen, Bierdosen. Im Fach der Beifahrertür stecken Leckerlis und eine Bürste für die Katzen. Auf dem Armaturenbrett liegt eine englischsprachige Bibel.

Weil ihm die Nacht zu gefährlich wurde, ist auch Nasser mit seiner Familie geflohen. Während Adeline und Ali immerhin ein Auto haben, in das sie sich zurückziehen könnten, schläft er mit seiner Frau und den vier Kindern unter freien Himmel. In einem kleinen Park am Platz der Märtyrer, dem Stadtzentrum von Beirut, sitzen sie auf einer dünnen Fleecedecke, neben ihnen ein Koffer. Nur einen Meter weiter liegt ein junger Mann auf einer Matratze, hinter ihnen sitzt eine weitere Familie auf dünnen Decken.

Auch Nasser und seine Familie sind aus der südlichen Vorstadt geflüchtet. Die Wohnung der Familie liegt an der “Tariq al Matar”, der Autobahn, die aus Beirut zum Flughafen führt. Erst vor wenigen Tagen flog das israelische Militär einen gezielten Luftangriff auf ein Gebäude an dieser Straße, das Ziel soll ein mit der Hisbollah Geschäfte machender Libanese gewesen sein. Wer nun daran vorbeifährt, blickt auf ein hohes Mehrfamilienhaus, dessen obere zwei Stockwerke ein Trümmerhaufen sind.

Zu Fuß verlassen sie ihr Zuhause in Richtung des eher sicheren Nordbeiruts, in der Nacht Ende September, in der Nasrallah stirbt. Sie laufen und laufen, mit den Kindern – die Älteste im Grundschulalter, die Jüngeren noch Kleinkinder – die Autobahn entlang Richtung Norden. Das Kleinste, sagt er, brauche noch Windeln und Milch aus der Flasche.

In der Nacht, in der Nasser und seine Familie flüchten, gibt es dutzende Angriffe auf Südbeirut, auch nahe der Straße zum Flughafen. Sie reißen bis heute nicht ab. Für Nasser Grund genug, nicht zurückzukehren.

Hinter dem Park, in dem die Familie schläft, steht eine Kirche. Ihre von der Nachmittagssonne angestrahlten silbernen Kreuze leuchten in den Himmel. Auf der anderen Straßenseite steht eine große Moschee. Auch ihre blaue Kuppel strahlt im Licht. Niemand habe ihm Hilfe angeboten, sagt er. Nicht der Staat, nicht die islamische oder christliche Gemeinde, keine Hilfsorganisation. Seine Arbeit bei einer Plastikfabrik hat er mit dem Beginn der Eskalation verloren, denn sie hat den Betrieb eingestellt.

Noch kann er seine Familie ernähren: An diesem Tag essen sie auf ihrer Decke Falafel mit dem typisch libanesischen ganz dünnen Fladenbrot. Nicht nur ihr bisheriges Leben hätten sie zurückgelassen, sondern auch ihre Würde, sagt Nasser.

Noch ist die Luft warm in Beirut, es regnet selten. Was, wenn der Krieg weiter anhält, die Temperaturen sinken und schließlich der libanesische Winter mit Feuchtigkeit und Wind heraufzieht? Nasser hat darauf keine Antwort. Adeline weiß immerhin eine Alternative: zurück auf die Philippinen, mit Ali und den drei Katzen, solange der Flughafen noch funktioniert. Doch noch seien sie nicht bereit, den Libanon hinter sich zu lassen. Sie glaube fest an Gottes Beistand, sagt sie, für sich selbst und für ihren muslimischen Mann. “Der Herr ist mit uns.”