An diesen Ort kommen Menschen mit ihrer Verzweiflung, aber auch mit ihren Hoffnungen: Das Grenzdurchgangslager Friedland wird 80 Jahre alt. Eine Zeitzeugin erzählt von ihrem Aufenthalt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
Hinter ihr liegen eine fünfzehnmonatige Flucht aus Stargard in Pommern, Hunger, Kälte und der Verlust fast allen Besitzes: Im Mai 1946 erreicht die fünfjährige Christel Dohrmann Friedland bei Göttingen. Um den Hals trägt sie einen kleinen Brustbeutel aus hellem Leder – versehen mit Name, Geburtsdatum und Heimatadresse; im Inneren ein Zettel mit weiteren Kontaktadressen. “Meine Mutter war in großer Sorge, dass einer von uns unterwegs verloren gehen könnte”, erinnert sie sich. Die Befürchtung wurde zum Glück nicht wahr: Christel kommt zusammen mit Schwester, Bruder, Mutter und Großmutter in Friedland an.
Das dortige Grenzdurchgangslager, wie es bis heute offiziell heißt, wird in diesen Tagen 80 Jahre alt. Es wurde am 20. September 1945 von der britischen Militärverwaltung eingerichtet – strategisch günstig an der Nahtstelle von britischer, amerikanischer und sowjetischer Besatzungszone. In dem Chaos nach dem Zweiten Weltkrieg wurden dort Hunderttausende registriert, medizinisch untersucht, entlaust und weitergeleitet. Ziel war auch, Familien zusammenzuführen und Vermisste zu finden.
Die Flucht von Christel Dohrmann beginnt im Februar 1945, als die Rote Armee immer näher rückt. Nach einer Radiomeldung beschließt ihre Mutter: “Jetzt gehen wir.” Mit viel Gepäck drängt sich die Familie mit anderen Flüchtlingen zum Bahnhof. Später übersteht sie in Oranienburg nördlich von Berlin einen schweren Bombenangriff im Keller eines Wohnhauses. “Plötzlich wurde es warm, die Tür glühte. Wir dachten alle, das ist das Ende”, erzählt die heute 85-Jährige, die inzwischen Christel Svenson heißt.
In Klein-Woltersdorf in der Prignitz erlebt die Familie den Einmarsch der Roten Armee, versteckt sich in einem unterirdischen Bunker und verliert weiter an Hab und Gut. Inzwischen ist der Vater, der als Soldat in Norditalien war, aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen und hat in Hamburg eine Bleibe gefunden. Weil sich die Familie im sowjetischen Sektor befindet und der Vater im britischen, ist eine Zusammenkunft zunächst nicht möglich. Erst Monate später wird ein entsprechender Antrag der Mutter bewilligt. Der Weg vom Osten in den Westen führt über Friedland.
Dort teilt sich die Familie eine von zahlreichen Wellblechhütten mit einer anderen Familie. “Meine Mutter zeigte uns kleine Unterschiede an der Wand, damit wir den richtigen Eingang wiederfinden”, erinnert sich Svenson. “Es hieß immer nur ‘Rasch, rasch!’, weil so viele Menschen in Friedland waren.”
Bis heute haben nach Angaben des Museums Friedland mehr als vier Millionen Menschen das Lager in Südniedersachsen durchlaufen, allein bis 1949 rund 1,7 Millionen. Anfangs sind es vor allem deutsche Flüchtlinge sowie entlassene Kriegsgefangene. Überregionale Bekanntheit erlangt das Lager durch die Ankunft der letzten deutschen Gefangenen aus der Sowjetunion in den 50er Jahren, die als “Heimkehr der Zehntausend” in den Medien inszeniert wird.
Später kommen Jugendliche aus der DDR sowie Aussiedler, also Menschen deutscher Abstammung aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Immer mehr finden auch Flüchtlinge aus weltweiten Krisengebieten Aufnahme: 1956 aus Ungarn, 1974 aus Chile, ab 1978 vietnamesische “Boat People” und in den 1980er Jahren Tamilen aus Sri Lanka.
Heute ist Friedland die bundesweit einzige Aufnahmeeinrichtung für Spätaussiedler und jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Zudem ist es Erstaufnahme für Flüchtlinge aus aller Welt, die in Niedersachsen Asyl suchen. Das Lager bietet bis zu 800 Menschen Platz. Bei der Betreuung engagieren sich neben anderen auch die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie.
Seit 2016 erforscht, präsentiert und vermittelt das Museum Friedland die Geschichte der Einrichtung. Es ist im historischen Gebäude des Bahnhofs untergebracht, der das Lager verkehrlich gut anbindet. Die Eröffnung eines zusätzlichen Neubaus, in dem vor allem die gegenwärtige Migration in den Blick genommen werden soll, ist für nächstes Jahr geplant.
Die Familie von Christel Svenson bleibt – wie viele Ankommende nach dem Zweiten Weltkrieg – nur wenige Tage in dem Durchgangslager. Für sie geht es weiter in das nahe gelegene Dorf Bördel. “Dort fühlten wir uns zum ersten Mal auf der Flucht wirklich willkommen”, sagt sie. Kurz darauf kann die Familie den Vater wiedersehen.
Heute lebt die pensionierte Lehrerin in Göttingen und engagiert sich als Zeitzeugin im Museum Friedland. Den Briefwechsel zwischen ihren Eltern aus den Jahren 1944 bis 1946 hat sie transkribiert und in einem Buch abgedruckt. Die Brustbeutel, die sie und ihre Geschwister um den Hals trugen, hat sie aufgehoben. Den ihres Bruders hat sie dem Museum als Ausstellungsstück übergeben.
“Solange Zeitzeugen noch leben, sollten sie alles weitergeben, was sie wissen und erlebt haben”, ist die 85-Jährige überzeugt. Die heutigen Kriege und der zunehmende Rechtspopulismus machen ihr große Sorgen: “Ich finde es eine wahnsinnige Tragik, dass so wenige Mächtige über das Schicksal so vieler Menschen entscheiden.” Ihre Botschaft an junge Generationen: “Bildung ist alles. Was man im Kopf hat, das kann man nicht verlieren.” Das sei auch immer das Credo ihrer Mutter auf der Flucht gewesen.