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Familie kannst Du Dir nicht aussuchen

Es besteht immer ein schmaler Grat zwischen der Vision von Filmschaffenden, ihre Gedanken der Umwelt vermitteln zu wollen, und dem, was einem Publikum zuzumuten ist. Wer kompromisslos „sein Ding durchzieht“, geht das Risiko ein, nicht verstanden zu werden. Biedert man sich aber zu sehr an den Mainstream an, kann es schnell in den Kitsch abdriften. So erklärt es sinngemäß der von Selbstzweifeln geplagte Komponist Bernard (Robert Gwisdek) in Matthias Glasners Film „Sterben“, der auf der diesjährigen Berlinale läuft. Es passt zur subtilen Selbstironie des Films, dass dieser den beschriebenen Balanceakt selbst nicht durchgehend meistert.

„Sterben“ ist nach „Der freie Wille“ (2006) und „Gnade“ (2012) Glasners dritte Einladung in den Wettbewerb der Berlinale. In 180 Minuten taucht er in die dysfunktionale Familiendynamik der Lunies ein: Lissy Lunies (Corinna Harfouch) ist von Diabetes, Nierenversagen und Krebs gezeichnet, allein ihr Verstand ist klar und kalt. Ihr Mann Gerd – körperlich kaum fitter, geistig komplett abgetreten – ist ihr nur noch eine Last. Sohn Tom (Lars Eidinger) lebt als mehr oder minder erfolgreicher Dirigent in Berlin. Mit seiner Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) zieht er das Kind eines anderen groß. Nebenbei kümmert sich Tom um seinen Freund Bernard, seit 20 Jahren unglücklich und suizidal. Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) hangelt sich selbstzerstörerisch von Vollrausch zu Vollrausch und beginnt eine Affäre mit dem verheirateten Zahnarzt Sebastian (Roland Zehrfeld).

„Nicht alle Menschen haben das Talent zum Glücklichsein“, bemerkt Tom an einer Stelle. Wenn es darum geht, unglücklich zu sein, verfügen Glasners Figuren aber über eine regelrechte Inselbegabung. Dem Titel zum Trotz durchzieht „Sterben“ daher ein herrlich makaberer, manchmal brachialer, bisweilen bitterböser Humor. Wenn Tom und seine Mutter am Küchentisch einander erst versehentlich, dann mit voller Absicht offenbaren, einander nie wirklich gemocht zu haben, ist das große Schauspielkunst. Es gibt einige dieser grandios beiläufigen, überzogenen und doch wahrhaftigen Szenen, die das glänzend besetzte Ensemble lakonisch trägt. Allein Ellen ist eine Anti-Superheldin, die zu unkaputtbar wirkt, um wirklich zu berühren. Lars Eidinger ist als ewig gleich- und gutmütiger Tom zwar wahrlich kein Sympathieträger, aber der Ruhepol der Handlung.

Glasner beweist Mut zum Risiko. Er marschiert mit seiner Inszenierung derart furchtlos auf den eingangs skizzierten „schmalen Grat“ zu, dass er manchmal ins Straucheln gerät. Doch gerade diese Ausrutscher machen „Sterben“ zu einem besonderen Film, der viel über den Tod und alles, was bis dahin passieren kann und sich so simpel Leben schimpft, zu erzählen weiß.

Ein dysfunktionales Familienkonstrukt liegt auch „The Outrun“ von Nora Fingscheidt zugrunde, der anders als ihr Erfolgsfilm „Systemsprenger“ nicht im Wettbewerb läuft. Basierend auf dem autobiografischen Roman von Amy Liptrot spielt „The Outrun“ in der rauen Landschaft der schottischen Orkney-Inseln.

Das unbeständige Wetter, die fauchende See und der konstante Wind spiegeln das Innenleben von Protagonistin Rona (Saoirse Ronan). Seit fast sechs Monaten „trocken“, also alkoholabstinent, ist sie aus London in ihr Elternhaus zurückgekehrt. Dabei war sie einst in die Großstadt geflohen, um genau das hinter sich zu lassen: die Trennung ihrer Eltern, den bipolaren Vater und die Ödnis der Inseln. Die Erinnerungen daran, wie sie ihr Biologiestudium und die Beziehung zu ihrem Freund Daynin (Paapa Essiedu) durch ihre Alkoholsucht an die Wand gefahren hat, brechen immer wieder hervor. Schauspielerin Saoirse Ronan, die in „The Outrun“ auch erstmals als Produzentin auftritt, liefert die kraftvoll-kämpferische Darstellung einer Alkoholikerin, die ihre innere Stärke in der Abgeschiedenheit von Schottlands schroffer Schönheit wiederentdeckt.