Fast 1.600 Stunden verbringen Vollzeitbeschäftigte alljährlich mit ihrem Job. Für die meisten Broterwerb, für viele sinnstiftend – doch Arbeit birgt auch Risiken. Fachleute und Politik sehen Unternehmen in der Pflicht.
Eine berufliche E-Mail um 23 Uhr verschicken? Das findet Carsten Rogge-Strang nicht unbedingt problematisch – wenn vermerkt wird, dass diese Uhrzeit zu den eigenen Arbeitszeiten passt, man aber keine sofortige Rückmeldung erwartet. Dieses Beispiel schilderte der Geschäftsführer beim Arbeitgeberverband des privaten Bankgewerbes am Donnerstagabend zum Auftakt der “Woche der seelischen Gesundheit”.
Solche Hinweise hätten eine wichtige Signalwirkung, betonte Rogge-Strang, denn viele psychische Belastungen hingen mit Erwartungshaltungen zusammen. “Eine gute Unternehmenskultur ist kein weicher Faktor”, betonte er. Dies müssten Führungskräfte vorleben. Zudem sei die Möglichkeit, die eigene Arbeit mitzugestalten, nach seiner Erfahrung “die beste Prävention”.
Die Aktionswoche steht in diesem Jahr unter dem Motto “Hand in Hand für seelische Gesundheit am Arbeitsplatz”. Bis zum 20. Oktober sind bundesweit über 900 Veranstaltungen geplant. Bestehende Angebote müssten bekannter und Arbeitgeber sensibilisiert werden, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der Schirmherr der Aktionswoche ist.
Die Zahl der Krankheitstage wegen psychischer Probleme steige seit Jahren, ergänzte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Dies habe massive Produktionsausfälle zur Folge, vor allem aber eine große Belastung für die Betroffenen. Es stehe außer Frage, dass es im Job durchaus “Belastungsspitzen” geben könne – daraus dürfe jedoch keine Überlastung werden.
Der Vorsitzende des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit, Arno Deister, mahnte, Stigmatisierung sei noch immer eine alltägliche Erfahrung für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Ob Betroffene offen mit dem Thema umgehen könne, hängt laut Sozialmedizinerin Steffi Riedel-Heller stark von den Umständen ab. Die Bundesärztekammer sieht Handlungsbedarf in diesem Zusammenhang: Betroffene müssten besser unterstützt werden; außerdem brauche es mehr Vorbeugung.
Aus Sicht der Deutschen Psychotherapeuten-Vereinigung ist es wichtig, Belastungen am Arbeitsplatz frühzeitig zu erkennen. So sei ein Burnout oftmals Vorläufer einer behandlungsbedürftigen Depression, betonte der Vorsitzende der Vereinigung, Gebhard Hentschel. Besonderes Augenmerk sei in Branchen wie Altenpflege oder Kinderbetreuung gefragt. Dort sei die Belastung auch durch Personalmangel besonders hoch.
Die Personalausstattung bezeichnete Sylvia Bühler, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Verdi, als wichtigste Stellschraube. Die Arbeitswelt habe sich massiv beschleunigt, und oftmals passe die Menge der Arbeit nicht zur Zahl derjenigen, die sie bewältigen müssten.
Arbeit könne sowohl Risiko als auch Ressource sein, fügte Riedel-Heller hinzu. Bei der Gesundung von Menschen mit psychischen Erkrankungen werde sie vielfach unterschätzt. Die Wissenschaftlerin riet zum Blick auf andere Länder: So gebe es etwa in Norwegen die Möglichkeit von Teil-Krankschreibung bei psychischen Erkrankungen. Auch jede und jeder Einzelne könne etwas tun, sich beispielsweise ausreichend bewegen und Pausenzeiten einhalten.