Auch nach Ende des Prozesses zum Messerangriff von Solingen am Mittwoch hält der Extremismusforscher Andreas Zick weiterhin eine Begleitung von Opfern für nötig. Das sei ein jahrelanger Prozess, sagte der Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld dem Evangelischen Pressedienst (epd). Der Forscher mahnte zugleich, neue Terrorformen in den Blick zu nehmen. Radikalisierung sei vielschichtiger geworden, sagte er mit Blick auf den islamistischen Hintergrund des Anschlags in Solingen mit drei Toten vor einem Jahr. Außerdem brauche es flächendeckend Präventionsangebote, die miteinander vernetzt seien.
epd: Was kann das Ende des Prozesses zum Messerangriff in Solingen psychologisch für Opfer bedeuten? Was ist nach Ende des Prozesses mit Blick auf Betroffene und Angehörige nötig?
Andreas Zick: Opfer und ihr Umfeld brauchen langfristige Beratungen. Aus der Amokforschung und der psychologischen Beratung wie den Vereinen, die sich um Opfer kümmern, wissen wir, dass es oft ein jahrelanger Prozess ist. Es geht hier um schwere Gewalt, die manche Menschen in schwere seelische Lagen bringen und sie lähmen kann. Daher sind der Opferschutz und die Opferbegleitung ein zentraler Bestandteil der Intervention. Auch hier ist Luft nach oben in Deutschland, um schneller und besser zu helfen.
epd: Woran denken Sie dabei?
Zick: In Bielefeld gab es ein vermutlich islamistisches, schweres Attentat vor einer Bar im Mai 2025. Der Täter sitzt in Haft. Bielefeld denkt sehr präventiv als Stadtgesellschaft. Wir haben als Forschungseinrichtung und Konfliktakademie zusammen mit der Wissenswerkstatt sofort eine Veranstaltung organisiert, auf der Menschen ihre Unsicherheiten äußern und Fragen stellen können. So können Lernprozesse für die Prävention früh eingesetzt werden. Dazu kann bei aller Verunsicherung, die der Terror erzeugen möchte, Sicherheit gesucht werden. Wenn das nicht besser gelöst wird, dann gewinnen Terroristen und Populisten, die Angst schüren. Auch eine funktionierende Zivilgesellschaft kann Opfern Schutz geben und in Teilen verlorene Sicherheit zurückgewinnen.
epd: Der wegen des Messerangriffs auf dem Volksfest in Solingen angeklagte junge Mann aus Syrien hat als Begründung für die Tat unter anderem auf die Situation im Gaza-Streifen und auf Kontakte über soziale Medien verwiesen. Inwieweit führt die Eskalation im Nahen Osten zu Radikalisierungen in Deutschland?
Zick: Massive Ungerechtigkeitsgefühle spielen für Radikalisierungen grundsätzlich eine wichtige Rolle. Daher bedienen Terrorgruppen diese auch und versuchen, Menschen, die sich mit dem Konflikt beschäftigen, zu erreichen. Sie spülen massiv Opferbilder in die sozialen Netzwerke wie auch Falschinformationen. Ungerechtigkeitsgefühle sind aber nur ein Element der Radikalisierung.
epd: Was sind die weiteren Elemente?
Zick: Es kommt darauf an, welche Bedürfnisse anfällige Personen noch haben, ob sie eigene Netzwerke haben oder ob sie alleine sind. Auch kommt es darauf an, welche Narrative angeboten werden. Leider sind Terrorgruppen sehr versiert darin, die Bedürfnisse, Netzwerke und auch Narrative herzustellen. Insofern ist der Einfluss des Konfliktes nicht direkt, aber er führt zu emotionalen Polarisierungen, die der Terror verschärft und die er radikalisiert.
epd: Muss mit weiteren Anschlägen gerechnet werden, die durch den Konflikt um den Gaza-Streifen ausgelöst werden?
epd: Der Nahostkonflikt hat immer zu mehr Terror geführt, und trotz der Angriffe Israels gibt es die Hamas und andere Terrorgruppen noch. Teile sind zerschlagen, aber sie reorganisieren sich. Und es wird neue Terrorgruppen geben, die sich formieren. Terrorgruppen sind auch untereinander in einem Wettbewerb. Daher sehen wir auch Angriffe und Attentate aus allen möglichen Richtungen. Deshalb sind Friedensverhandlungen umso notwendiger, nicht nur, um die lebenden und toten Geiseln zu befreien und das Leid der Zivilbevölkerung zu beenden, sondern auch, um die Entstehung neuer Terrorzellen zu verhindern.
epd: Wie gelingt es Islamisten, junge Menschen in Deutschland für Terror-Anschläge zu rekrutieren?
Zick: Wie schon gesagt erreichen die Gruppen vor allem neuerdings einzelne, vielleicht sich einsam fühlende und psychisch belastete junge Menschen. Es fällt auf, dass sie über soziale Medien und lokale Netzwerke offensichtlich Täterinnen und Täter suchen. Sie suchen Einzelne, die Sinn suchen, die vielleicht Netzwerke suchen und die ein Bedürfnis haben, über ihre Lage zu reden.
Terrorgruppen können solche Menschen gut aufspüren. Sie verfügen über soziale Netzwerke, die viele Menschen umfassen, die anwerben, mobilisieren, predigen und sich auch wie Sozialarbeiter verhalten. Terrornetzwerke, die länger bestehen, teilen die Rollen gut auf, sodass sie immer wieder neue Mitglieder gewinnen können und Abtrünnige ausschließen. Der Prozess der Anwerbung kann dabei schleichend und scheinbar harmlos beginnen.
epd: Was ist an Prävention möglich?
Zick: In Deutschland haben wir gute Präventionsmaßnahmen entwickelt. Es gibt Netzwerke für die Prävention der Radikalisierung in die Gewalt. Die bieten Beratung, anonyme Hilfe und Schulungen. Leider ist das nicht lückenlos. In manchen Regionen gibt es keine Angebote. Daneben gibt es staatliche Prävention und auch Angebote wie Nottelefone, die auch wahrgenommen werden. Prävention beginnt aber am besten sehr früh, daher ist frühe Bildung über Extremismus und die Stärkung von Kindern darin, mit Informationen und Gefühlen gut umgehen zu können, auch hilfreich.
epd: Wo sehen Sie noch weiteren Bedarf?
Zick: Es gibt gewissermaßen eine Bandbreite, allerdings fehlt ein Mapping – eine strukturierte Form – der Extremismusprävention, das alle Facetten umfasst. Heutzutage ist die Radikalisierung vielschichtiger, wir müssen neue Terrorformen im Blick haben. Das bedeutet, dass Menschen, die andere deradialisieren möchten, selbst eine kluge Plattform brauchen, wo sie Informationen einholen. Es wäre gut, wenn wir, ähnlich wie bei Schul-Amoktaten, ein kluges Kommunikationsnetzwerk haben. Das können wir herstellen, aber es fehlt uns die Förderung.