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Ex-Botschafter Stein: Verantwortung der Hamas wird kaum noch benannt

Er selbst kritisiert die israelische Regierung und den Gazakrieg. “Ein totaler Sieg ist eine Illusion”, sagt der frühere israelische Botschafter Shimon Stein. Einige Punkte kommen für ihn in der Debatte aber zu kurz.

Der frühere israelische Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, hält es für einen Fehler, dass in der Debatte über den Gazakrieg wenig von der Rolle der Terrorgruppe Hamas die Rede ist. “Die Verantwortung der Hamas, die sich hinter der eigenen Bevölkerung verschanzt, humanitäre Hilfe abzweigt und Geiseln hält, wird mittlerweile kaum noch benannt. Das halte ich für einen großen Fehler”, sagte Stein der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”. Es sei bedauerlich, dass es nicht allen, die Vorwürfe gegen Israel erhöben, um konstruktive Kritik gehe, die mit der ehrlichen Hoffnung verbunden sei, eine Veränderung zu erreichen.

Er selbst könne nicht beurteilen, ob die israelische Armee im Gazastreifen Kriegsverbrechen begehe, weil er nicht genug wisse, sagte Stein. “Es gibt Institutionen, die irgendwann ihr Urteil sprechen und uns zur Rechenschaft ziehen werden, zum Teil mit Recht. Bis dahin aber halte ich die Diskussionen über diese Begriffe – darunter auch ‘Genozid’ oder ‘Verbrechen gegen die Menschlichkeit’ – für zweitrangig.”

Denn: “Mir reicht das Ausmaß dessen, was ich sehe, um von einer Katastrophe zu sprechen. Die humanitäre Lage, die Zerstörung, die Zahl der Toten sind schrecklich genug, um ein Ende dieses Krieges zu fordern”, erklärte Stein. Er halte es für “falsch und gefährlich”, einen Genozid-Vorwurf zu erheben, solange es keine “klaren Belege” dafür gebe. “Was die Instrumentalisierung des Begriffs Antisemitismus angeht, rate ich allerdings zu Vorsicht. Der Bekämpfung von tatsächlichem Antisemitismus tut man keinen Dienst damit, jede Kritik an Israel vorschnell als antisemitisch zu brandmarken.”

Auf die Frage, warum Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Krieg weiter führe, sagte Stein: “Es gibt dafür keine rationale Erklärung – außer seinen eigenen Machterhalt. Das zeigt sich schon allein daran, dass er nicht bereit ist, über den Tag danach zu sprechen.” Ausgewiesene Militärfachleute, auf deren Einschätzung er sich verlasse, sagten, dass die Hamas militärisch besiegt sei, so Stein. 75 Prozent des Gazastreifens seien in den Händen Israels.

“Doch weil eine politische Vision fehlt, drohen diese militärischen Erfolge nun wieder zu zerbröseln. Ein totaler Sieg ist eine Illusion. Für einen zwecklosen, ewigen Krieg sterben jeden Tag weitere Soldaten und werden die letzten Geiseln in Gaza geopfert, die noch am Leben sind”, betonte der ehemalige Botschafter.