Eine neue Studie enthüllt schockierende Fakten über sexualisierte Gewalt in evangelischer Kirche und Diakonie. Die Autoren fanden konkrete Hinweise auf 2.225 Betroffene. Doch gehen sie von einer viel höheren Zahl aus.
Der Horror begann im Fahrradkeller. Dort wurde Detlev Zander, Bewohner eines evangelischen Kinderheims, in den 60er Jahren das erste Mal von einem Betreuer vergewaltigt. Der Missbrauch wiederholte sich über Jahre etliche Male. Unter den psychischen Folgen leidet der inzwischen Anfang-60-Jährige heute noch.
Dass Zander bei Weitem nicht der Einzige ist, dem es so erging, zeigt eine neue Studie, die Forscher acht verschiedener Institutionen am Donnerstag in Hannover veröffentlichten. In kirchlichen Akten fanden die Wissenschaftler Hinweise auf 2.225 Menschen, die zwischen 1946 und 2020 im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der Diakonie sexualisierte Gewalt erfahren haben. Bei der ersten Tat waren sie im Durchschnitt elf Jahre alt. Verantwortlich für ihr Leid sollen 1.259 Pfarrer und weitere Kirchenmitarbeiter oder -mitglieder sein. “Diese Zahlen sind jedoch nur die Spitze der Spitze des Eisbergs”, sagte Studienleiter Martin Wazlawik.
Weil den Forschern von 19 der 20 deutschen Landeskirchen nur ein Teil der Akten zur Verfügung gestellt wurde, gehen sie von weit höheren tatsächlichen Zahlen aus. Mit Hilfe einer Hochrechnung kommen sie auf 9.355 Betroffene und 3.497 Beschuldigte. Diese Zahlen seien jedoch spekulativ.
Die EKD hatte die knapp 900 Seiten starke Studie vor gut drei Jahren für rund 3,6 Millionen Euro in Auftrag gegeben. Die Forscher führten Interviews mit Betroffenen und versuchten, systemische Ursachen für den Missbrauch zu ergründen. Ein Ergebnis: Pfarrer haben ihre besondere Machtposition immer wieder ausgenutzt.
Was den Umgang mit Betroffenen angeht, stellten die Forscher der evangelischen Kirche ein schlechtes Zeugnis aus. Viele Betroffene machten die Erfahrung, dass die Institution sehr träge reagiere, so Erziehungswissenschaftler Wazlawik. In fast der Hälfte der Landeskirchen existierten keine verbindlichen Regeln für die Erfassung von Fällen sexualisierter Gewalt. Viele Landeskirchen könnten eine Vernichtung von Akten nicht ausschließen. Aufarbeitung sei in den meisten Fällen nur durch das Engagement Betroffener erfolgt – nicht proaktiv.
Als Ursachen dafür nannte Wazlawik unter anderem die föderale Struktur der Kirche. Betroffene hätten Glück oder Pech, wie mit ihrem Fall umgegangen werde, je nachdem in welcher Landeskirche sie lebten. Auch werde Verantwortung zwischen den verschiedenen Ebenen hin- und hergeschoben. Zudem attestierte er der evangelischen Kirche Konfliktunfähigkeit: “Es gibt das das Bedürfnis, immer schnell Harmonie herzustellen.” Die Forscher empfehlen EKD und Diakonie unter anderem, einheitliche Standards für die Aufarbeitung zu schaffen und dabei alle Träger und Einrichtungen mit einzubeziehen.
Die kommissarische EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs erklärte, sie habe von der Studie “vieles erwartet, aber das Gesamtbild hat mich doch erschüttert”. Die Untersuchung vermittle schwarz auf weiß, “mit welch perfider und brutaler Gewalt Erwachsenen, Jugendlichen und auch Kindern unsägliches Unrecht angetan wurde – mit schweren Verletzungen an Leib und Seele, mit zum Teil lebenslangen Folgen”. Die Ergebnisse würden nun in den Gremien der EKD diskutiert, um gemeinsam Gegenmaßnahmen zu erarbeiten.
Detlev Zander, der sich seit Jahren auf Bundesebene für die Aufarbeitung einsetzt und Sprecher einer Betroffenenvertretung auf EKD-Ebene ist, sagte: “Heute ist für die evangelische Kirche und die Diakonie ein rabenschwarzer Tag.” Durch den Umgang der Landeskirchen mit Betroffenen würden immer noch Menschen retraumatisiert. “Wer jetzt den Schuss noch nicht gehört hat, der muss sich fragen, ob er am rechten Platz ist.”
Dass die Landeskirchen nicht alle Akten zur Verfügung gestellt hatten, begründete Fehrs mit fehlendem Personal. Es sei schlicht nicht leistbar gewesen, alle Personalakten zu sichten. 19 Landeskirchen sichteten daher nur ihre Disziplinarakten – also Akten über Mitarbeiter, die in irgendeiner Weise auffällig geworden sind und damit eine begrenzte Anzahl. Lediglich eine kleine Landeskirche, deren Name nicht genannt wurde, hat auch ihre Personalakten gesichtet. Daraus ergibt sich eine ungleich höhere Fallzahl.
Eine systematische Analyse aller Personalakten sei in Zukunft nachzuholen, betonte Wazlawik. Sie stelle eine unabdingbare Basis für eine transparente Aufarbeitung dar. “Die Landeskirchen verhindern Aufarbeitung – das deckt sich mit der Erfahrung vieler Betroffener”, sagte die Betroffene Katharina Kracht, die sich früher im ehemaligen Betroffenenbeirat der EKD engagiert hat. Sie habe keine Wünsche mehr an die evangelische Kirche. Stattdessen forderte sie, eine Aufarbeitung durch staatliche Stellen.