"Ich bin dann mal weg.“ Der Satz kommt einem heute fast wie von selbst über die Lippen, wenn das Thema auf den Jakobsweg kommt. Ja, manch einer hält sogar den Bestseller von Hape Kerkeling aus dem Jahr 2006 für den Auslöser des neuen Booms auf den mittelalterlichen Pilgerstraßen nach Santiago de Compostela. Dabei war der Zug damals schon in ziemlich voller Fahrt.
Den Anstoß gaben 1982 Papst Johannes Paul II. und – vor genau 30 Jahren – der Europarat in Straßburg. Am 23. Oktober 1987 erklärte er den Jakobsweg zum ersten europäischen Kulturweg und rief zur Wiederbelebung dieser „europäischen Kulturbewegung“ auf. Seitdem sind von Jahr zu Jahr mehr Wallfahrer und Wanderer den „Camino“ gegangen. In eine fast verebbte Tradition kam allmählich neues Leben.
Sinnbild und Katalysator der europäischen Einigung
Seit der Überlieferung, nach der Einsiedlermönch Pelagius, wohl im Juli 813, auf dem „Sternenfeld“ (lateinisch: Campus stellae; spanisch: Compostela) im damaligen Bistum Iria Flavia die Gebeine des Apostels Jakobus entdeckte, war Sankt Jakob (spanisch: Santiago) Anziehungsort für Pilger vom gesamten Kontinent – wenn man so will ein Sinnbild und Katalysator der europäischen Einigung. Der Jakobsweg, das ist ein Netz von Straßen und Wegen, die seit dem Mittelalter Pilger vom Baltikum über Polen, Deutschland, die Schweiz und schließlich Frankreich zum angeblichen Apostelgrab in Nordspanien führten.
Die offizielle Urkunde bekommt bei Weitem nicht jeder der Millionen Santiago-Touristen jährlich ausgehändigt, die per PKW, Bus, Bahn oder Flugzeug anreisen. Man muss dazu mindestens die letzten 100 Kilometer bis Santiago gewandert oder geritten sein oder die letzten 200 Kilometer mit dem Fahrrad zurückgelegt haben. Ob das E-Bike als recht neuer Freizeittrend ebenfalls gleichberechtigt gilt, harrt noch einer Entscheidung. 2017 erhielten rund 280 000 Pilger die Urkunde – wieder mal ein neuer Rekord, der die bisherige Bestmarke aus dem „Heiligen Jakobsjahr 2010“ (272 412) hinter sich ließ – ein Riesenandrang auf die Helfer im Pilgerbüro der Apostelstadt.
Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 1981 kamen überhaupt nur 299 Pilgende an, so wenige wie heute im August binnen weniger Stunden. 1984 waren es immerhin schon 423. Dazwischen lag der flammende Appell des polnischen Papstes Johannes Paul II. am 9. November 1982 aus Santiago de Compostela: „Noch immer kannst du Leuchtturm der Zivilisation und Anreiz zum Fortschritt für die Welt sein. Die anderen Kontinente blicken auf dich – und hoffen, von dir die Antwort des heiligen Jakobus zu hören, die er einst Christus gab: ‚Ich kann es!‘“
Von da an entstand ein neues Bewusstsein für die europäische Dimension des Jakobspilgerns. Der Europarat griff die Idee auf. Und seit den 1990er Jahren schoss die Zahl der Wandernden in die Höhe. Nicht alle allerdings waren und sind religiös unterwegs; manche sportlich, manche kulturell; manche aber begeben sich auch auf die Suche nach sich selbst.
Die Zahlen von heute bringen manche Auswüchse der Kommerzialisierung mit sich: Pauschaltourismus, organisierte Rucksacktransporte, sogar Gepäckverbot in der Kathedrale von Santiago – immerhin das ganz große Ziel eines jeden Pilgernden. Das ruft inzwischen auch Kritiker auf den Plan: Der Jakobsweg werde konsumiert, samt der Landschaft und der Leute am Wegesrand.
Muster-Weg auch für neue Wege-Projekte
Aber Not – wenn das schon Not ist – macht auch erfinderisch: Die „harten“ Pilger weichen auf Nebenstrecken und auf Wanderschaft außerhalb der Saison aus. Und es entstehen immer neue Projekte, die dem Muster der Jakobswege folgen – oder es variieren: sich auf dem Weg einer guten, interessanten oder spannenden Sache herausfordern zu lassen.
So gibt es seit einigen Jahren etwa die europäischen Martinswege auf den Spuren des „heiligen“ Martin. Dort soll es weniger ums Ankommen, sondern mehr um das Gemeinsame auf dem Weg gehen: Erfahrungen zu teilen, wie einst der Legende nach Martin von Tours seinen Mantel mit dem Bettler teilte.
– Informationen über den Jakobsweg und weitere „Europäische Kulturwege“: https://www.coe.int/en/web/cultural-routes/by-theme.