Die Entwicklungsländer sollten in die Verhandlungen über eine künftige Welthandelsordnung einbezogen werden. Das fordert Sven Giegold. Seit Kurzem gehört der Wirtschaftswissenschaftler und Grünen-Europaabgeordnete dem Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentags an. Öffentlich bekannt wurde der 45-Jährige vor 15 Jahren als Mitgründer des deutschen Zweigs der globalisierungskritischen Attac-Bewegung. 2009 wurde er Mitglied des Europaparlaments und ist Sprecher seiner Fraktion für Wirtschafts- und Finanzpolitik. Im Interview mit Joachim Heinz äußert er sich zum geplanten US-amerikanisch-europäischen Freihandelsabkommen TTIP und der Kritik daran aus den Reihen der Kirchen (siehe auch UK 36/2015).
• Herr Giegold, Sie gehören zu den bundesweit bekannten Kritikern des geplanten amerikanisch-europäischen Freihandelsabkommens TTIP. Die Skepsis scheint inzwischen überall zu wachsen, auch bei den Kirchen. Nach verschiedenen evangelischen Kirchen, Kirchenvertretern und Hilfswerken erst hat sich nun auch das höchste Laiengremium der Katholiken in Deutschland, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), zu Wort gemeldet. Freuen Sie sich über die neue Unterstützung?
Natürlich freue ich mich, dass sich das ZdK an der Debatte beteiligt und auch grundlegende ethische Maßstäbe an das Abkommen anlegt. Allerdings finde ich den Text zu wenig katholisch, wenn ich das als Protestant sagen darf.
• Warum?
Dem Katholizismus verdanken wir die katholische Soziallehre. Ein Leitgedanke darin ist das Subsidiaritätsprinzip. Danach ist jede Zentralisierung begründungspflichtig. Je dezentraler soziale Angelegenheiten geregelt sind, desto besser funktioniert eine Gesellschaft. Damit schützt das Subsidiaritätsprinzip letzten Endes die Demokratie vor immer größerer Bürgerferne. Leider findet sich nichts vom Subsidiaritätsgedanken in dem Text.
• Vielleicht, weil das am eigentlichen Thema vorbeigeht. Schließlich will TTIP Handelsbarrieren abbauen. Und das geht vermutlich eher über einheitliche Regeln.
TTIP will Standards vereinheitlichen. Es widerspricht dem Subsidiaritätsgedanken, wenn die USA und Europa nicht mehr eigenständig über soziale, ökologische und konsumentenfreundliche Standards entscheiden können. Kleine Wachstumseffekte reichen hier nicht. Ein engagiertes Christentum sollte sich für das Subsidiaritätsprinzip starkmachen. Das gilt nicht nur für Europa, sondern auch für die internationale Handelspolitik.
• Ist der eigentliche Skandal aber nicht vielmehr, dass der Aufschrei vonseiten der Kirchen, aber auch aus dem Europaparlament viel zu spät kommt? Es gibt schließlich schon zig Verträge nach TTIP-Muster.
Dass erst durch TTIP die Aufmerksamkeit auf die europäische Handelspolitik gelenkt wurde, ist beschämend für uns alle. Zur Ehrenrettung der Kirchen sei aber hinzugefügt, dass gerade die katholischen und evangelischen Hilfswerke schon früh vor den Folgen solcher Verträge gewarnt haben. Umso wichtiger ist jetzt, konsequent am Ball zu bleiben.
• Empört euch – aber richtig.
Genau. Wenn man wie das ZdK aus guten Gründen im Rahmen von TTIP private Schiedsgerichte ablehnt, dann sollten wir solche Änderungen auch für bestehende Verträge fordern. Wieso sollen Entwicklungsländer mit einer rechtsstaatswidrigen Form von Justiz abgespeist werden, während wir für TTIP jetzt einen Handelsgerichtshof einfordern?
• Aber allein Deutschland hat über 100 Handelsverträge vornehmlich mit Entwicklungsländern, in denen private Schiedsgerichtsverfahren Anwendung finden. Ganz ehrlich: Wie realistisch ist es, dagegen vorzugehen?
Wir sollten im Sinne der Option für die Armen verlangen, die bestehenden Handelsverträge neu zu verhandeln – ohne private Schiedsgerichte. Bei TTIP wird es noch lange dauern, bis es da vorangeht. Die EU arbeitet zugleich an über 20 anderen Verträgen. Noch hat die EU keinen Handelsvertrag mit ISDS, also einer privaten Schiedsgerichtsbarkeit, ratifiziert. Zudem sind schon viele Handelsverträge gescheitert. Denken Sie etwa an das Abkommen gegen Produktpiraterie ACTA. Der Vertrag fiel im Europaparlament durch.
• Es ist also noch nicht zu spät?
Alle, die jetzt sagen, da könne man nichts mehr machen, versuchen, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. Aber wir brauchen auch hoffnungsstiftende Alternativen.