Artikel teilen:

Erinnerungsschatten

Eine Studie zeigt, dass sich die Kirche in der NS-Zeit an der Minderheit schuldig gemacht hat. Bis heute sitzen die Vorurteile tief

picture alliance / Christophe Ga

BERLIN – Vorurteile gegenüber Sinti und Roma sind einer Studie zufolge auch innerhalb der evangelischen Kirche tief verwurzelt und bis heute kaum aufgearbeitet. Laut einem Ende September auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Berlin vorgestellten Gutachten der Heidelberger Historikerin Verena Meier über „Protestantismus und Antiziganismus“ (siehe auch UK 40/2017, Seite 4) gibt es zahlreiche Belege kirchlichen Versagens bis in die Gegenwart. Bis heute fehle es an einer systematischen Forschung zu diesem Thema, sagte Meier und appellierte an die Kirche, sie müsse aus dem „Erinnerungsschatten“ heraustreten. Auftraggeber der Studie war der Zentralrat der Sinti und Roma.
Zementiert wurden die Vorurteile laut Meier bereits vom Reformator Martin Luther (1483-1546), der die Feindschaft gegen Sinti und Roma theologisch rechtfertigt habe. Die anhaltende Diskriminierung der Minderheit über die Jahrhunderte sei bei den Protestanten deshalb auf Desinteresse gestoßen, oder sie hätten sich aktiv daran beteiligt.
So habe die evangelische Kirche im 19. Jahrhundert sogenannte „Zigeunermissionen“ etabliert, die von Vorurteilen geleitet gewesen seien. „Die Minderheit sollte durch Umerziehung assimiliert werden“, sagte Meier. Vereinzelte Regionalstudien hätten zudem gezeigt, dass große Teile der Kirche in der NS-Zeit bei der Verfolgung von Romas mitgemacht hätten.
So hätten beispielsweise in Berlin mehr als 150 kirchliche Mitarbeiter Tauf- und Kirchenbücher durchforstet, um „Juden, Zigeuner und Neger (Mohren an Fürstenhäusern)“ in einer „Fremdstämmigen Taufkartei“ auszusondern, wie es hieß. Die Informationen seien an die Reichsstelle für Sippenforschung weitergegeben worden.

Antiziganismus theologisch gerechtfertigt

Auch nach 1945 habe sich die evangelische Kirche viele Jahrzehnte gescheut, Mitverantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen an den Roma und Sinti zu übernehmen, hieß es weiter. Erst Jahrzehnte später, 1991, habe die EKD eine spezifische Mitschuld an der Verfolgung der Minderheit, die im Völkermord endete, zum Ausdruck gebracht.
Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, appellierte an die evangelische Kirche, sich der eigenen „antiziganistischen“ Geschichte zu stellen. Ein klares Bekenntnis zur Aufarbeitung sei ein wichtiger Schritt, sagte Rose. Unter „Antiziganismus“ versteht die Wissenschaft „Zigeunerfeindlichkeit“.
Die protestantische Kirche mit ihrer Geschichte stehe in besonderer Verantwortung und müsse diese auch „deutlich mehr“ übernehmen, betonte Rose. Immer noch gebe es in der Forschung zu „viele Leerstellen“, mit denen sich künftig Kirchenhistoriker auseinandersetzen sollten. Dabei sind für Rose die „zähen und langlebigen Vorurteile“ gegenüber den Sinti und Roma Ausdruck eines gesellschaftlichen Versagens.
Der Bevollmächtigte des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der EU, Martin Dutzmann, räumte ein Versagen der evangelischen Kirche ein. Im Jahr des 500. Reformationsjubiläums schmerze es besonders zu erfahren, dass Luther die Feindschaft gegen Sinti und Roma theologisch rechtfertigt habe und dass viele Protestanten ihm darin gefolgt seien, sagte Dutzmann. Wie es zu der theologisch legitimierten Verachtung und Verfolgung der Sinti und Roma kam, bedürfe einer differenzierten kirchengeschichtlichen Untersuchung, fügte Dutzmann hinzu. epd