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Erfahrung gegen alle Erfahrung

Als junger Mönch war Martin Luther fasziniert von mystischen Vorbildern. Gegen den Erfahrungsglauben in den eigenen Reihen aber kämpfte er mit aller Härte

© epd-bild / Steffen Schellhorn

War Luther Mystiker? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Mystik bedeutet ja den Vorrang von Glaubenserfahrung vor theologischen Konstrukten. Luthers Theologie beginnt mit den Erfahrungen einer angefochtenen Seele. Der Gottesschrecken befällt den Jurastudenten anlässlich eines Gewitters. Er wird Mönch. Aber im Kloster hört sein innerer Kampf nicht auf. Trotz der liebevollen Führung durch seinen mystisch geprägten geistlichen Vater Johannes Staupitz ist der junge Mönch der Verzweiflung nah. Kann ein gerechter Gott mich lieben, eine vollkommen unvollkommene Person? Staupitz verweist ihn auf Christus, der uns das barmherzige Antlitz Gottes zeigt. Mit wenig Erfolg.
Aber dann macht Luther eine tröstliche Entdeckung! Er stößt auf den Text eines anonymen Mitglieds des Deutschherrenordens. Luther ist begeistert von dieser mystischen Schrift und veröffentlicht sie unter dem Titel „Eine theologia deutsch“. Er geht so weit zu sagen, dass er kein Buch außer der Bibel und den Schriften des Augustinus kennt, durch das man mehr Wissen über Gott gewinnen könnte. Kurz danach erfolgt sein Anschlag der Thesen gegen den Ablass.

Mystiker als Vorbilder im Glauben

Andere mystische Autoren beeinflussen Luther ebenfalls: Johannes Tauler, Bernhard von Clairvaux und Bonaventura. Er zitiert sie zeitlebens mit Respekt. In einem seiner Tischgespräche erwähnt er seine mystische Begeisterung als junger Mönch, einschließlich diesbezüglicher Frustrationen: Die Beschreibung der „unio mystica“ bei Bonaventura als intellektuelle und willentliche Vereinigung von Gott und Seele, habe ihn „schier toll“ gemacht. Er sei trotz aller Sehnsucht am mystischen Aufstieg kläglich gescheitert. Zweifel und Anfechtung gehören für ihn fortan zum Weg des Glaubens, der oft eine „Erfahrung gegen alle Erfahrung“ sei. Zu viel weiß er über die eigene Gebrochenheit, zu intensiv hat er die dunkle Seite Gottes geschmeckt. „Nur durch Leben, ja durch Sterben und Verdammnis wird man zum Theologen“, sagt er, „nicht durch Verstehen, Lesen oder Forschen!“
Wie die Mystiker findet Luther Befreiung nicht über Moral oder über Vermittlung durch die kirchliche Hierarchie. Luther teilt mit der Mystik den Verzicht auf Selbst-Erlösung durch „gute Taten“. Der Glaube ist wesentlich etwas Passives, eine Weise, Gott zu empfangen, ja zu „erleiden“.
Zeit seines Lebens finden wir „mystische“ Aussagen bei Luther. Aber sie werden in seiner zweiten Lebenshälfte überschattet von seinen massiven antimystischen Äußerungen. Die Aktivitäten einiger seiner frühen Weggefährten sind Ursache seiner Ausfälle. „Schwärmerei“ ist für ihn fortan der Inbegriff einer religiösen Haltung, die sich auf das unmittelbare innere Wort beruft und sich nicht allein auf das äußere Wort der Schrift gründet.

Heftiger Kampf gegen die „Schwärmer“

Während Luther auf der Wartburg die Bibel übersetzt, beginnt sein ehemaliger Vorgesetzter Karlstadt, in Wittenberg Reformen umzusetzen. Er teilt das Abendmahl unter Brot und Wein aus, verzichtet auf Priestergewänder, entfernt die Bilder aus der Kirche. Er betont die innere Wandlung des Menschen. Natürlich will auch Luther die innere Wandlung des Menschen. Aber beide unterstreichen die jeweils entgegengesetzte Seite: Karlstadt die innere Wandlung, Luther das äußere Wort.
Noch schärfer wird der Konflikt durch Thomas Müntzer, der ein prophetischer Feuerkopf ist.  Er will mehr als nur die religiöse Freiheit der Menschen gegenüber der römischen Kirche. Müntzer betont die explosiven sozialen Implikationen des Evangeliums. Die eklatante Unterdrückung der Bauern und Leibeigenen ist für ihn nicht länger akzeptabel. Auch Luther fordert die Machthaber zu mehr Gerechtigkeit auf und sagt schlimme Folgen vorher, wenn die Ausbeutung der Bauern nicht aufhört. Aber er bestreitet das Recht der Unterdrückten, das Joch der Unterdrücker selbst abzuwerfen. Christliche Freiheit ist für ihn ausschließlich eine Freiheit vor Gott.  Die Rebellion gegen die gottgewollte Obrigkeit ist Sünde, weil sie zu Chaos und Anarchie führe. Als Müntzer die Bauern zum Aufstand treibt, stellt sich Luther kompromisslos auf die Seite der Fürsten.
Der Mystiker und der Antimystiker: Luther ist letztlich beides. Der spätere protestantische Intellektualismus ist Luthers Sache ganz und gar nicht. Das „Vernünfteln“ hasst er. Und doch hat seine Betonung des „äußeren Wortes“  intellektuellen Höhenflügen den Weg bereitet. In der sogenannten „lutherischen Orthodoxie“ werden alle mystischen Regungen fortan im Keim erstickt. Nur einzelne evangelische Christen wagten es, den inneren Weg zu gehen.

Lutherische Orthodoxie erstickte die Mystik

In den letzten Jahrzehnten kündigt sich ein Wandel an. Der Schweizer Pfarrer Walter Nigg und der bayerische Diakon Gerhard Wehr waren weithin unbeachtete Wegbereiter einer neuen Wertschätzung der Mystik. Theologie und Mystik, Wort und Stille, Kopf und Herz, Innen und Außen, Engagement und Kontemplation gehören für sie zusammen – damit wir ganze Menschen werden, aber auch um der Welt willen, deren Herausforderungen beides brauchen: Vernunft und Seele, Gottes­erkenntnis und Gotteserfahrung.
Die letzten Worte Luthers deuten eine zutiefst mystische Erfahrung und Erkenntnis an: „Wir sind Bettler, das ist wahr!“. Vor Gott stehen wir mit leeren Händen, ganz und gar angewiesen auf seine Zuwendung. Genau das ist der Erfahrungsweg, den christliche Mystik zeigt: Den Weg in jene Leere, in jenes Vakuum, das nur Gott allein auszufüllen vermag.