Der 10. Sonntag nach Trinitatis wird in den evangelischen Kirchen Israelsonntag genannt. In diesem Jahr fällt er auf den 31. Juli. Das ist ungefähr das Zentrum der Trinitatiszeit. Schon von daher hat dieser Sonntag eine besondere Stellung.
Sie wird dadurch noch unterstrichen, dass er sich dem Verhältnis von Christen und Juden beziehungsweise der Kirche zum Volk Israel widmet, einer Thematik, die von großer Bedeutung für die christliche Kirche ist. Es ist wichtig, dass wir erkennen, wie unsere Wurzeln im Volk Israel, dem Volk Gottes, verankert sind. Die Erkenntnis des Apostels Paulus, dass das Volk Israel nicht verworfen ist (Römer 11,25 – 31), muss maßgeblich sein für unser Reden über und vor allem mit diesem Volk, natürlich auch sonst, aber am Israelsonntag besonders.
Hineingenommen in den Bund
Wir sind hinzuerwählt, sind mit hineingenommen in den Bund mit Gottes erster Liebe, wie wilde Zweige eingepfropft in den Ölbaum, den Paulus als Gleichnis wählt für Gottes Heilsgeschichte, für Hegen und Pflegen seiner „ersten Liebe“. So hat der Wiener Historiker Friedrich Heer Israels Erwählung umschrieben. Und dieser Bund Gottes mit Israel ist ungekündigt. „Wohl dem Volk, dessen Gott der Herr ist, dem Volk, das er zum Erbe erwählt hat“ (Psalm 33,12) lautet darum der Wochenspruch.
Das war der Kirche nicht immer bewusst, im Gegenteil, sie hat das sogar bestritten. Es gibt eine Reihe übler Enterbungsdarstellungen in der Kirchengeschichte. In ihnen spielt sich die Kirche als das „neue“, als das „wahre Israel“ auf.
Diese Haltung wird in mittelalterlichen Skulpturen oder Gemälden von allegorischen Frauengestalten dargestellt (siehe Darstellungen rechts). „Ecclesia“, die Kirche, triumphiert stolz mit Krone, Fahnenstange und Abendmahlskelch als Zeichen des „Neuen Bundes“. Die besiegte „Synagoga“ dagegen steht mit gesenktem Kopf. Die Binde über ihren Augen symbolisiert ihre Blindheit gegenüber Christus; ihre Lanze ist zerbrochen, die Gesetzestafeln gleiten ihr aus der Hand.
Christliche Überheblichkeit von Anfang an
„Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“, schreibt uns Paulus bewusst ins Stammbuch (Römer 11,18). Wir wissen, dass es von Anfang an eine christliche Überheblichkeit über Juden gegeben hat. Ihre Steigerung zum Antijudaismus gehört zur Erbsünde der Kirche, mit schlimmen, bösen, mörderischen Auswirkungen. Diese Religionspolemik der Kirchen bietet sogar noch hässlichere Bildmuster wie etwa die Judensau (außen an der Wittenberger Stadtkirche). Bei Sacharja 2,12 steht: „Denn so spricht der Herr Zebaoth über die Völker, die euch beraubt haben: Wer euch antastet, der tastet meinen Augapfel an.“ War die Kirche dafür blind?
Im Ulmer Münster ist ein Kirchenfenster dem Judentum gewidmet. Der Glasmaler Hans Gottfried von Stockhausen hat es gestaltet (siehe links). Es ist nicht nur ein theologisches Fenster, sondern auch ein politisches, denn es spart den Holocaust nicht aus.
Monumental ist die Menora im oberen Drittel des Kirchenfensters, ein riesiger siebenarmiger Leuchter. Darunter ein großer, grüner Busch, der Feuer gefangen hat. Mose und der brennende Dornbusch sind das Bild für Gottes Offenbarung; der Bund mit seinem Volk Israel wird mit den zwei Gebotstafeln rechts symbolisiert.
Hans Gottfried von Stockhausen hat 1986 das Israelfenster im Ulmer Münster über dem südlichen Eingang der Westfront gestaltet. Angeregt wurde es damals durch den Dekan Erhard John.
Im unteren Bereich des Fensters sieht man einen Davidstern und dahinter eine Gruppe nackter, kahlgeschorener Menschen vor lodernden Krematorien. Darunter – ganz unten am Fenster in drei roten Halbkreisen – ist zu lesen Treblinka, Auschwitz und Bergen-Belsen. Das ist deutlich, direkt und mutig. Die Gedanken am Israelsonntag werden selbstverständlich auch den Holocaust und die rechtsextremen Strömungen in unserer Gesellschaft heute beinhalten.
Kirchenfenster mit Widersprüchen
Das Israelfenster ist ein wichtiges Münsterfenster. Doch in dem Fenster gibt es auch ein Bild, das irritiert. Was soll da das riesige Maul mit seinen Zahnreihen im unteren Drittel des Fensters?
Damit wird die klassische kirchliche Darstellung vom Jüngsten Gericht zitiert, wo die Verurteilten für ihre Sünden verdient in die Hölle kommen, manchmal werden die Verdammten von Teufeln in den „Schlund der Hölle“ geführt.
Denkt man dieses Zitat, das der Künstler in das Israelfenster eingefügt hat, konsequent zuende, dann wäre auch der Schluss möglich, dass die Urheber und Mittäter der Schoah, Menschen wie Adolf Eichmann und Josef Mengele, Diener Gottes wären. Und die Kirchen sind wieder unschuldig. Das ist problematisch – bis zum Rückfall in alte Denkmuster.
Der Gedanke an Rabbinerinnen und Rabbiner, mit denen mich eine gemeinsame theologische Herkunft verbindet, erfüllt mein Herz mit tiefer Traurigkeit. Ihretwegen bin ich in ständiger innerer Not, so möchte ich in Anlehnung an Paulus angesichts der de-facto-Abschaffung des Israelsonntages in vielen Gemeinden sagen. Ja, wir tun uns schwer mit dieser Thematik, so auch mit Martin Luthers wachsendem Antijudaismus, der bibelwidrig ist.
Der Israelsonntag als Chance
Dennoch ist der Israelsonntag wichtig. „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will“, schrieb der Theologe Dietrich Bonhoeffer.
Für mich bietet der Israelsonntag im Kirchenjahr eine große Chance, die unseren Kirchengemeinden von Gott geschenkt worden ist, über die Folgen von Verächtlichmachung und Verhöhnung durch die Kirche nachzudenken, sensibel und wach zu werden. Beim Beten des Vaterunsers mit seinen sieben Bitten an eine Menora und an „lebt als Kinder des Lichts“ zu denken, und überhaupt neu zu entdecken, dass dieser Satz Jesu in Johannes 4,22 bewusst im Präsens steht: „Das Heil kommt von den Juden.“