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Einer trage des anderen Last

Seit 1992 macht der Internationale Tag für die Beseitigung der Armut jedes Jahr am 17. Oktober darauf aufmerksam, wie wichtig die Bekämpfung von Armut ist. Macht die ­Ampelregierung genügend für die Menschen, die dringend Hilfe brauchen? Hat sie Strategien gegen die Spaltung der Gesellschaft?

Von Sabine Werth

Seit gut einem Jahr haben wir eine Ampelkoalition. Seit fast einem Jahr nehmen die gesellschaftlichen ­Herausforderungen und Krisen ständig zu. Waren es ursprünglich noch die ganz normalen Auseinandersetzungen oder Annäherungen dreier Parteien, die zum Teil keine gemeinsamen ideologischen Gemeinsamkeiten hatten, kamen der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die Inflation hinzu. Seither tun SPD, Grüne und FDP ­einiges, um nach außen Einigkeit und Geschlossenheit zu demonstrieren. Allerdings sind die bisherigen Maßnahmen wie die beiden ­ersten Entlastungspakete ihren ­Namen nicht wert. Es scheint, als hätten Mandatsträger*innen mit der Annahme ihrer Ämter so ziemlich jede Bodenhaftung verloren. 

Ein Beispiel ist der Tankrabatt. Wem hat er eigentlich geholfen? Hartz IV-Beziehende haben in aller Regel gar kein Auto. Viele Studierende auch nicht und Rentnerinnen und Rentner haben zum Teil aus ­Altersgründen ihren Führerschein abgegeben oder fahren sehr viel seltener Auto als jüngere Menschen, die pendeln oder aus anderen Gründen auf ein Auto angewiesen sind.

Eher Klientelpolitik

Das Argument war, den Pendlerinnen und Pendlern eine Hilfe sein zu wollen. Aber kamen denn die ­Rabatte wirklich an? An den meisten Tankstellen wurden die 30 ­beziehungsweise 16 Cent nicht an die Tankenden weitergereicht. ­Warum eigentlich 30 Cent für ­Benzin, aber nur 16 Cent für Diesel? Die meisten Handwerker*innen fahren Diesel, die Lkw brauchen Diesel, alle Tafel-Fahrzeuge fahren Diesel. Dieses Beispiel zeigt, dass es wohl eher Klientel­politik war und nicht so sehr eine gezielte Maßnahme für alle, die es dringend brauchen. 

Die endlose Diskussion über die ­erneute Absenkung des Mehrwertsteuersatzes für Lebensmittel von 19 auf 7 Prozent liefen so lange, dass viele Menschen, die niedrige Renten oder Hartz IV beziehen, gar nicht mehr genug Geld hatten, um überhaupt einkaufen zu gehen. Konsum, vor allem jener, der das Überleben sichert, hängt von der ­finanziellen Möglichkeit ab. Hier und beim Tankrabatt wurden ­öffentliche ­Gelder mit der Gießkanne aus­geschüttet und die, die dringend Hilfe brauchen, ­wurden und werden ­vergessen.

Nachdem die Kritik an den beiden Entlastungspaketen groß genug war, wurden im nächsten Schritt endlich die Rentner*innen und die Studierenden bedacht. Endlich! Ob allerdings das dritte Paket  den Menschen wirklich hilft, muss sich erst noch ­beweisen.

Das wahre böse Erwachen

200 Milliarden. Der Betrag klingt ­gigantisch. Aber wie wird er aus­geschüttet? An wen? Und wann? Schon jetzt haben viele höhere ­Vorauszahlungen für Gas und Strom, aber die eigentliche ­Katastrophe steht uns hier erst noch bevor. Mit der Betriebskostenabrechnung für 2022 wird es das wahre böse ­Er­wachen geben. Ist von den 200 Milliarden dann noch etwas übrig? Haben es die bekommen, die es dringend brauchen? Sind wieder ­einige wenige, die schnell genug „hier“ gerufen haben, denen zuvorgekommen, die es dringend brauchen könnten, die sich aber nicht so schnell und laut bemerkbar ­machen?

Verantwortung tragen

Solange Regierungen zwar Gutes wollen, es aber leider nicht um­setzen, dürfen sie nicht auf das Wohlwollen der Bevölkerung ­hoffen. Unsere Gesellschaft driftet immer mehr auseinander. Auf der einen Seite die, die glauben zu kurz zu kommen. Auf der anderen Seite jene, die sich, außer um sich selbst, um nicht viel kümmern. 

Eigentlich sind wir eine Solidargemeinschaft. Die Generationen ­­­tragen füreinander Verantwortung. Zumindest ist das der Anspruch. ­Einer trage des anderen Last – ist das so? Sind wir bereit, uns für ­einander einzusetzen? Es wäre zu schön, dieses Gefühl (wieder) zu ­haben. Den politisch Verantwort­lichen und der Gesellschaft gegenüber.

Sabine Werth ist Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Berliner Tafel.