Hamburg. Auf den ersten Blick hatte er das Buch für Kitsch gehalten. „Die Umarmung“ hieß das Buch, das Pastor Steffen Kühnelt unter dem Weihnachtsbaum seiner Eltern entdeckte. Auf dem Cover war eine Schwarz-Weiß-Zeichnung von zwei Menschen zu sehen, die sich aus kurzer Entfernung anschauen. Es war das Geschenk einer Verwandten an Kühnelts Eltern.
Doch bei näherem Hinsehen stellte sich heraus: Das Bilderbuch beschäftigt sich sehr ernsthaft mit dem Thema. Der israelische Schriftsteller David Grossman setzt sich darin mit der Umarmung auseinander und geht der Frage nach, warum sie uns so guttut. Kühnelt inspirierte das Buch zur ersten Predigt im neuen Jahr, die er per Video-Gottesdienst hielt. Dann hatte Bettina Mergemeier aus dem Kirchengemeinderat die Idee, das Buch durch den Stadtteil zu schicken – als literarische Umarmung während der Pandemie.
Schokolade als Dankeschön
Pastor Kühnelt war sofort begeistert. Er wandte sich an eine Buchhandlung im Viertel, die einige Exemplare spendete. Weitere Exemplare organisierte der Theologe aus zweiter Hand, sodass momentan zwölf Bücher durch Rissen wandern. Sie werden von Haushalt zu Haushalt gegeben, jeder darf selbst bestimmen, an wen er sein Exemplar weiterreicht. Wer möchte, trägt seinen Namen ein.
„Die Aktion hat eine eigene Dynamik entwickelt“, sagt Pastor Kühnelt. Als er neulich beim Haustür-Besuch einer Jubilarin zum 90. Geburtstag gratulierte, da sagte sie ihm gleich zur Begrüßung, dass sie auch schon umarmt worden sei. Und vor ein paar Tagen fand der Theologe eine Tafel Schokolade in seinem Briefkasten, versehen mit dem Hinweis „Eine Umarmung für Dich!“.
Schmerzlich vermisst
Warum die Aktion gerade in die Zeit der Pandemie so gut passt, ist für Steffen Kühnelt klar: „Eine Umarmung ist das, was die Menschen momentan am schmerzlichsten vermissen“, sagt Kühnelt. Sie bringe Wärme und körperliche Nähe. Wie sehr Menschen darunter leider, falle ihm besonders bei Trauerfeiern auf, wenn die Hinterbliebenen keine Umarmung und nicht einmal einen Händedruck empfangen könnten. „Das ist ein großes Defizit.“
Nur wenige Sätze
Auch wenn das 36 Seiten dicke Buch zum großen Teil aus Bildern besteht, ist es kein Kinderbuch. Auch Erwachsene dürften ihre Freude haben an der Geschichte von Ben und seiner Mutter, die sich auf einen Spaziergang durch die Felder machen und dabei der Frage nachgehen, warum die Umarmung erfunden worden ist. Die Bleistiftzeichnungen der Illustratorin Michal Rovner kommen mit ganz wenigen Strichen aus, Autor David Grossman, sonst für seine Romane bekannt, schreibt zu jedem Bild nur wenige Sätze – aber die hinterlassen Eindruck.
Es gebe keinen falschen, unaufrichtigen Ton in der Geschichte, Grossmans Worte seien wahr, klar und tief, lobt Pastor Kühnelt das Buch in seiner Predigt, die den wandernden Büchern beiliegt. Darin bezeichnet er die Umarmung auch „als vielleicht älteste Geste der Zärtlichkeit in der Welt“. Denn eine Umarmung könne Geborgenheit, Trost und Einvernehmen bedeuten. „Vielleicht kommt sie uns noch näher als ein Kuss“, so Pastor Kühnelt.
Ende März wieder im Pastorat
Die zwölf Bücher wandern unterdessen weiter durch den Stadtteil. Wo sie gerade sind, darüber hat die Johannesgemeinde keinen Überblick. Nur eines ist sicher: Ende März sollen die Exemplare ihren Weg zurück zum Pastorat finden. So steht es in den kurzen Anmerkungen, die Kühnelt den Exemplaren beigefügt hat. Es könne gut sein, dass die Idee des Buchs dann noch einmal in einem Gottesdienst aufgegriffen werde.
Buch-Tipp
David Grossman: Die Umarmung.
Hanser Verlag, 36 Seiten, 12 Euro.
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