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Ein Organ für das Göttliche

Religion als Gefühl der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ – diese Formulierung hat die evangelische Theologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts revolutioniert. Sie stammt von Friedrich Schleiermacher, der vor 250 Jahren geboren wurde

Rolf Zoellner

Er war – als Reformierter – ein typischer Protestant, einer, für den sich Religion im eigenen Herzen, in der individuellen Seele, im möglicherweise quer denkenden Kopf ereignet und nicht in amtskirchlichen Lehrgebäuden. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Philosoph und Theologe, vor 250 Jahren in Breslau geboren, gilt als der bedeutendste evangelische Theologe des 19. Jahrhunderts.
Schleiermacher stammte aus einer Pastorenfamilie. Der kleine Friedrich besuchte die Internatsschule der Herrnhuter Brüdergemeine in Niesky, später deren theologisches Seminar Barby bei Magdeburg. Bei den Pietisten fand er emotionale Wärme und lernte soziales Bewusstsein, aber die intellektuelle Enge erdrückte ihn. Als Neunzehnjähriger geriet er in eine ernste religiöse Krise.
„Ich kann nicht glauben“, schrieb er seinem Vater, „dass (Jesu) Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, dass sie nötig gewesen; denn Gott kann die Menschen, die er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind.“
Nach harten Kämpfen ließ ihn der Vater an die Universität Halle gehen, die als geistiges Zentrum der Aufklärung galt. Schleiermacher stürzte sich auf die griechische Philosophie und setzte sich gründlich mit Kant auseinander. Theologische Themen sucht man in seinen frühen Arbeiten vergeblich.
Seine erste Stelle trat er als reformierter Prediger an der Berliner Charité an. Er übersetzte Predigtsammlungen aus England und Platos Werke, er gewann Anschluss an die literarischen Berliner Salons, schloss Freundschaft mit den Romantikern – und sprach auf der Kanzel über „die durch Christum aufgehobene Unmündigkeit des menschlichen Geschlechts“ oder „die Geschichte vom Thomas, vom vernünftigen Glauben“. Friedrich Schleiermacher hatte sein Lebensthema gefunden.
Noch bevor er als Professor für Theologie und Philosophie an die Universität Halle wechselte, veröffentlichte der Autor 1799 die provokante Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“. Das war nun tatsächlich eine Revolution in der Geistesgeschichte. Schleiermachers These: Weder Metaphysik noch die Moral haben etwas mit Religion zu tun, beide gehören zur kalten Vernunftwelt. Das eigentliche Organ für „das Göttliche“ (von einem personalen Gott spricht er selten) ist das Gefühl. Religion gehört von Natur aus zum Menschen, als „eine eigene Provinz im Gemüt“, als angeborene Anlage wie jede andere auch. Religion ist weder Denken noch Tun, sondern Gefühl und Anschauung: „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“.
Das richtete sich gegen die amtskirchlichen Fundamentalisten mit ihrer starren Dogmatik ebenso wie gegen die bürgerlichen Moralisten, die den christlichen Glauben als sittliches Gerüst und als Kitt der gesellschaftlichen Ordnung verstanden. Aber Schleiermacher war ein sehr praktischer Denker; deshalb zog er aus seinen Ideen Schlussfolgerungen für eine umfassende Kirchenreform („Der ganze Zuschnitt dieser Anstalt müsste ein anderer sein“) mit einer radikalen Trennung von Kirche und Staat und hohen Anforderungen an das kirchliche Personal: Statt der Pfarreien Personalgemeinden, spirituelle „Virtuosen“ im Pfarramt und eine kirchliche Gemeinschaft als „vollkommene Republik“ ohne Hierarchie. Die wahre Kirche sei dort, wo Menschen sich – gebend und empfangend – begegneten, in denen der religiöse Sinn lebendig sei.
Ein vages spirituelles Angebot für Esoteriker? Dazu ist Schleiermacher viel zu sehr exakt formulierender Philosoph. Religion ist für ihn das „Gefühl der schlechthinnigen (heute würde man sagen: absoluten) Abhängigkeit“. Ein Gefühl, das zur Entscheidung zwingt und zum Bekenntnis. Nicht alle waren mit diesen Ideen einverstanden. Sein großer Rivale Georg Wilhelm Friedrich Hegel spottete, nach Schleiermachers Definition sei der Hund der beste Christ, weil er das Gefühl der Abhängigkeit am stärksten in sich trage.
Seit dem Wechsel an die neu gegründete Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität machte der Theologe sich auch als Neutestamentler einen Namen. Das Christentum definierte er als „eine eigentümliche Gestaltung der Frömmigkeit“, in der alles „bezogen wird auf das Bewusstsein der Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth“.
Der mittlerweile berühmte Professor Schleiermacher war sich aber auch nicht zu schade, 1806 eine Idylle „Die Weihnachtsfeier“ zu publizieren. Die Pointe des Büchleins: Den Kern der Weihnachtsbotschaft erfasst ein kleines Kind namens Sofie, das sich einfach an der fröhlichen Gemeinschaft freut und Schleiermachers These verkörpert, dass die Gemeinschaft gläubiger Christen auch durch theologische Kontroversen nicht zerstört werden kann.
Derselbe Schleiermacher betätigte sich als politischer Journalist und beteiligte sich an Plänen für eine Erhebung gegen die noch im Land befindlichen französischen Truppen, was ihn fast seine Professur kostete.
1834 starb Schleiermacher 65-jährig an einer Lungenentzündung. Am Trauerzug in Berlin sollen bis zu 30 000 Menschen teilgenommen haben.