Artikel teilen:

Ein Leben aus den Fugen

Am 11. Mai vor 100 Jahren starb der Komponist Max Reger. Seine Choralkantaten gelten als wichtiger Beitrag des Traditionskatholiken zu einer Kerngattung der protestantischen Kirchenmusik

akg-images

Er sah so aus, wie man sich in Preußen einen barocken Bajuwaren vorstellt: gedrungen, füllig, trotzig aufgeworfene Lippen, finster zusammengezogene Augenbrauen, immer ein wenig außer Atem, ein Kraftmensch und Lebensgenießer. Er trank gern, prophezeite schon als Gymnasiast, er werde einmal ein „recht sakrischer Pilz“ werden, und antwortete vor einem Schülerkonzert auf die besorgte Frage, ob er denn Lampenfieber habe: „Gar keines, aber ein paar Würst hätt ich in der Tasche, die möcht ich zuvor noch gern essen!“ In seinen Klaviersonaten und Orgelfugen türmte er fremdartige Klanggebilde aufeinander, gewaltig, maßlos, überforderte Zuhörer und Musiker mit unruhigen Notenbildern und überladenen Partituren. „Man macht mir oft den Vorwurf, dass ich absichtlich so schwer schreibe“, verteidigte er sich ein wenig hilflos; „gegen diesen Vorwurf habe ich nur eine Antwort, dass keine Note zuviel darin steht.“

Erste Komposition als Fünfzehnjähriger

Doch in dem mit polternder Kraft auftretenden Riesenleib wohnte eine verletzliche Seele, und Regers Gutmütigkeit war sprichwörtlich – wenn ihn die Kritiker nicht allzu sehr reizten. Neben der gekonnten Renaissance barocker Tonfülle findet sich in seinem umfangreichen Werk die ganze Palette zarter romantischer Lyrik. Als Pionier der musikalischen Moderne wagte er sich bis an die Grenzen der Tonalität vor, entschied sich dann aber wieder für die klassische Formensprache, die er souverän beherrschte. „Max Reger war der letzte Riese in der Musik“, urteilte Paul Hindemith über den Frühvoll­endeten, der, als er 1916 im Alter von erst 43 Jahren starb, mehr als 50 Klavier- und Violinsonaten und Streichquartette, knapp 200 Fantasien, Choralvorspiele, Präludien, Variationen und Fugen für Orgel, 300 Lieder und rund 120 mehrstimmige Gesänge hinterließ, insgesamt mehr als tausend Kompositionen.
Am 19. März 1873 in Brand in der Oberpfalz geboren, als Sohn eines musikalisch überaus talentierten Schulmeisters, wuchs Max Reger in Weiden auf, damals noch ein idyllisches Städtchen mit 5000 Einwohnern. Über den Einzug der Lehrerfamilie in Weiden gibt es einen Bericht, der an Spitzweg-Gemälde erinnert: „Voran schritt der Vater, den Schal über der Schulter, an dem einen Arm den Reisekoffer, am andern ein Vogelhäuschen mit einem munteren Kanari. Zur Seite ging die Mutter, den kleinen einjährigen Max auf dem Arm. Hinter den beiden folgte die Magd, einen Kinderwagen vor sich hinschiebend und eine milchspendende Geiß nach sich ziehend.“
Den ersten Musikunterricht erhielt der Maxl natürlich durch den Vater, der Kontrabass, Klarinette, Oboe spielte und eine alte Übungsorgel geschickt für seinen Sohn sanierte und umbaute. Seinen zweiten Lehrer, den Weidener Komponisten Adalbert Lindner, konnte er bald in der Kirche vertreten. Die Berufsentscheidung fiel früh: „Als ich als fünfzehnjähriger Junge zum ersten Mal in Bayreuth den ‚Parsifal‘ gehört habe“, wird er sich erinnern, „habe ich vierzehn Tage lang geheult und dann bin ich Musiker geworden“. Wohl nicht ganz zur Begeisterung des Vaters, der den Sohn lieber auf einem sicheren Lehrerposten gesehen hätte; die Aufnahmeprüfung für das Amberger Lehrerseminar absolvierte der Maxl jedenfalls noch.
Die erste Komposition des Fünfzehnjährigen, eine „Ouvertüre in h-Moll für kleines Orchester und Klavier“, schickte sein Schutzgeist Adalbert Lindner an einen berühmten Hamburger Musikpädagogen namens Hugo Riemann. Der nahm den bayerischen Nachwuchs gern als Schüler an und verschaffte ihm 1893 eine erste Stelle als Lehrer für Komposition in Wiesbaden. Im selben Jahr gab Max Reger auch sein erstes Konzert als Pianist in Berlin. In seiner Militärzeit, als Einjährig-Freiwilliger im Wiesbadener 80. Infanterieregiment, gewöhnte er sich das Trinken an. Schwer krank kehrte er mit 26 nach Weiden zurück, übersiedelte nach München, heiratete – und begann wie ein Besessener zu komponieren.
„Denken Sie an Mendelssohn, an Mozart, an Schubert, an Wolf!“ So begründete er gegenüber Edith Mendelssohn Bartholdy einmal sein inneres Getriebensein. „Uns wird nicht viel Zeit gelassen, und ich muss mein Werk fertig haben.“ Reger arbeitete äußerst konzentriert; ein Augenzeuge berichtet, wie einmal in seinem Arbeitszimmer Familienangehörige und Hausfreunde eine lautstarke Diskussion führten, Kinder und Hunde herumtollten und zu allem Überfluss unter dem Balkon, dessen Türe weit offenstand, eine Militärkapelle Stücke aus Wagners „Tannhäuser“ schmetterte – während Reger seelenruhig eine elfstimmige Orchesterpartitur „scheinbar aus dem Handgelenk“ niederschrieb.
Das breite Publikum kannte ihn als Klaviervirtuosen und seit 1907 auch als begnadeten Dirigenten; da wurde er nämlich als Universitätsmusikdirektor nach Leipzig berufen. Doch längst hatte er begonnen, jenes gigantische Orgelwerk zu schaffen, mit dem er dem damals weithin vergessenen Bach Ehre zollte und selbst in die Musikgeschichte einging. Während die Orgel zu Anfang des 20. Jahrhunderts lediglich als Begleitmusik für den Gottesdienst galt und die große konzertante Orgelmusik der Frescobaldi und Buxtehude, Mendelssohn Bartholdy und Liszt endgültig der Vergangenheit anzugehören schien, entdeckte Max Reger in seinen gewaltigen Choralfantasien und Toccaten den eigenständigen Wert der Orgel neu und beeinflusste damit eine ganze Musikergeneration. Wie von selbst gipfelten die meisten dieser Wunderwerke in prächtigen Fugen, was er fast entschuldigend so erläuterte: „Andere machen Fugen; ich kann nicht anders als darin leben!“
So kam es zu der grotesken Situation, dass der Oberpfälzer Traditionskatholik Max Reger (stolz nannte er sich selbst „katholisch bis in die Fingerspitzen“) zum großen Erneuerer der protestantischen Kirchenmusik um die Jahrhundertwende wurde. „Die Protestanten wissen gar nicht, welch musikalischen Schatz sie an ihren Chorälen besitzen“, stellte er fest und goss die evangelischen Lieblingsmelodien von Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“ bis zum adventlichen Ohrwurm „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ in imposante Orgelfantasien und Präludien. In seinen „Choralkantaten zu den Hauptfesten des Evangelischen Kirchenjahres“ zeigte sich Reger wiederum als Vorläufer der katholischen „Liturgischen Bewegung“, indem er Anregungen von Theologen und Musikforschern aufnahm, gut singbare Stücke für Kirchenchöre unter Einbezug der Gemeinde zu komponieren.
Reger hatte auch überhaupt kein Problem, sich mit seiner protestantischen Frau evangelisch trauen und seine beiden Adoptivkinder in der evangelischen Konfession erziehen zu lassen. Er konnte unterschiedliche Ausprägungen der christlichen Überzeugung respektieren, weil er selbst in seiner katholischen Tradition so fest verwurzelt war. Seine Marienlieder und „Tantum ergo“-Sakramentsgesänge gehören zum eisernen Bestand katholischer Kirchenchöre. Ein lateinisches Requiem blieb leider unvollendet (später wurde es in deutscher Übertragung als „Totenfeier“ veröffentlicht), und auch was er nach der Begegnung mit Bachs h-Moll-Messe ausrief, sollte er nicht mehr realisieren können: „Wenn mir der liebe Herrgott das noch gibt, eine Messe zu schreiben! Und ein ‚Te Deum‘ will ich meinem Herrgott singen, wie es ihm noch nicht gesungen worden ist.“
Aber solche innigen Glaubensbekenntnisse genügten den Gralshütern korrekter kirchlicher Gesinnung nicht. Einflussreiche katholische Kreise verhinderten Regers Berufung zum Universitätsorganisten. Überhaupt schätzte man den schwierigen Modernisierer im protestantischen Norden und im Ausland mehr als in seiner bayerischen Heimat: Die Universität Jena verlieh ihm den Ehrendoktor, und 1911 wechselte er von Leipzig als Hofkapellmeister ins sächsische Meiningen. Hinzu kamen Querelen mit seinen Kritikern, die Max Regers wilde Tonsprache unerträglich fanden. Er revanchierte sich mit verbitterten Ausfällen gegen die „Filzläuse des deutschen Musiklebens“ und arbeitete in seine Sonate für Violine und Klavier op. 72 boshaft die Akkorde A-F-F-E und S-C-H-A-F ein; bei der Uraufführung in Frankfurt schlug er bei diesen Noten grimmig lächelnd in die Klaviertasten und deutete auf die anwesenden Rezensenten.

Todesahnungen gepaart mit frommem Vertrauen

Das fast manische ständige Komponieren, die Verpflichtungen als Dirigent und Kompositionslehrer – er muss ein hervorragender Pädagoge gewesen sein –, die ausgedehnten Konzertreisen durch mehrere europäische Länder untergruben seine Gesundheit ebenso wie die Liebe zum Wein, später zum Bier. Todesahnungen – ohne Panik, gepaart mit frommem Vertrauen – hatte er schon lange. „Haben Sie noch nicht bemerkt“, schrieb er einem Freund, „wie durch alle meine Sachen der Choral hindurchklingt: ‚Wenn ich einmal soll scheiden‘?“
Bei einem Orchesterkonzert im Elsass erlitt er einen ersten Herzanfall. Am Morgen des 11. Mai 1916 fand man den 43-Jährigen in einem Leipziger Hotelzimmer tot im Bett, akute Herzlähmung vermuteten die Ärzte. Auf dem Nachttisch lagen die Korrekturbögen mehrstimmiger geistlicher Gesänge, die er in Meiningen komponiert hatte; aufgeschlagen war der Eingangschor nach einem Gedicht von Matthias Claudius: „Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit, und alle Welt vergehet mit ihrer Herrlichkeit. Es ist nur Einer ewig und an allen Enden und wir in seinen Händen.“