Der Lord ist ein Trottel – wenn es um die Liebe geht. Genial ist er dagegen, wenn es darum geht, Verbrechen aufzudecken. Was ihn jedoch immer wieder ins Grübeln bringt, ist die Frage nach der Gerechtigkeit: Was bringt einen Menschen dazu, einen Mord zu begehen? Und was ist die gerechte Strafe?
Der adlige Hobby-Detektiv Lord Peter Wimsey ist die bekannteste Figur der englischen Schriftstellerin Dorothy L. Sayers, die vor 125 Jahren, am 13. Juni 1893, geboren wurde. Aber ihre Romane, in denen der gutaussehende, gebildete und schlagfertige Lord die Hauptrolle spielt, sind mehr als gut geschriebene Kriminalliteratur: Sie sind immer auch eine Auseinandersetzung der Pfarrerstochter und studierten Literaturwissenschaftlerin mit den Grundfragen nach Schuld, Moral und Sühne.
Glück beim Schreiben, Pech in der Liebe
Dorothy L. Sayers gehörte zu den ersten Frauen in England, die ein Studium absolvierten. Ihre glückliche Zeit an dem Oxforder Somerville College, wo sie klassische und moderne Sprachen belegte, findet ihren Niederschlag im zehnten der Lord-Peter-Romane, „Aufruhr in Oxford“, von 1935. Darin werden auch gesellschaftliche Fragen ihrer Zeit thematisiert: Das Leben selbst in die Hand nehmen, Geld verdienen und auf eigenen Füßen stehen – oder lieber heiraten und den Männern ihren angestammten Platz überlassen?
Sayers entschied sich zunächst für die Unabhängigkeit. Sie schlug sich durch als Lehrerin, Übersetzerin und Autorin und arbeitete eine Zeit lang in einer Werbeagentur. Dank des Erfolgs ihres ersten Krimis, „Der Tote in der Badwanne“, konnte sie sich ab 1923 als Schriftstellerin etablieren.
Ihr Privatleben verlief weniger erfolgreich. Der Schriftsteller John Cournos, mit dem sie Anfang der 1920er Jahre liiert war, erwartete vorehelichen Geschlechtsverkehr von ihr – Sayers beendete empört die Beziehung und zeichnete in dem Krimi „Starkes Gift“ (1929) ein unrühmliches Portrait ihres Liebhabers, der dort zum Mordopfer wird.
Später verliebte sie sich in Bill White, einen Automechaniker, und wurde von ihm schwanger – um dann zu erfahren, dass White verheiratet war. Im Januar 1924 brachte Sayers heimlich einen Sohn, John Anthony, zur Welt; weder ihre Eltern noch ihr Arbeitgeber erfahren davon. Sie bringt ihn bei einer Cousine unter, wo er aufwächst. Später, als Sayers bereits seit Jahren mit dem Journalisten Oswald Arthur Fleming verheiratet war, adoptierte sie ihren Sohn offiziell; John Anthony erfährt jedoch erst als Erwachsener, wer seine Mutter ist.
Auch die Ehe mit Fleming war nicht glücklich. Der Journalist litt unter Spätfolgen der Traumatisierung durch den Krieg und war schon früh arbeitsunfähig. Sayers dagegen war als Autorin angesehen und erfolgreich, was zu Spannungen in der Beziehung führte. Wahrscheinlich aus Pflichtgefühl hielt sie an der Ehe fest und versorgte Fleming bis zu dessen Tod 1950.
Auf der Suche nach der christlichen Moral
Mitte der 1930er Jahre wandte Sayers sich mehr und mehr dem Schreiben von Theaterstücken, Essays und theologischen Büchern zu. Als ihr gelungenstes Werk bezeichnete sie selbst ihre Übersetzung der „Göttlichen Komödie“ von Dante Alighieri. Sie starb 1957 an einem Schlaganfall.
Dorothy L. Sayers war überzeugte Christin. Fragen und Themen des Glaubens und der christlichen Moral durchziehen ihr Werk – zum Teil explizit, wie in ihren frühen religiösen Gedichten und in den erfolgreichen biblischen Hörspielen der späteren Jahre, zum Teil implizit, wie in den Kriminalromanen. Für sie selber war der Glaube vor allem eine Sache des Verstandes: Ihr einziges religiöses Gefühl, so formulierte sie es einmal, sei die Erfahrung der eigenen Sündhaftigkeit. Ihr Weg zu Gott führe jedoch nicht über Gefühle, sondern über den Intellekt.
Und so sind ihre literarischen Auseinandersetzungen mit dem Christentum geprägt von der Frage nach christlicher Moral. Ihr brillianter Detektiv Lord Peter Wimsey, für den die Aufdeckung von Verbrechen zunächst hauptsächlich ein unterhaltsames Gedankenspiel ist, sieht sich doch immer wieder vor die Frage nach den Auswirkungen seines Tuns gestellt: Ist es wirklich „gerecht“, einen Menschen, der sich ohne Absicht immer tiefer in Böses verstrickt hat, zu stellen und zu verurteilen? Ist es nicht mehr oder weniger Schicksal, wer sich für das Gute und wer für das Böse entscheidet? Und was ist das überhaupt, „Gut“ und „Böse“?
Nicht selten sind es Pfarrer oder als gläubige Christen beschriebene Nebenfiguren, die Lord Peter in seinen Zweifeln weiterhelfen. So argumentiert Peters Freund Inspektor Parker, ein nüchterner Polizist, der in seiner Freizeit gerne Kommentare zum Galaterbrief liest: „Du möchtest einen Mörder rein um des Sports willen zur Strecke bringen und ihm dann die Hand geben und sagen: ,Gut gespielt – Pech gehabt – du bekommst morgen Revanche. Aber so geht das eben nicht. (…) Du bist ein Mensch mit Verantwortung.“
Ist es „gerecht“, den
Ungerechten zu jagen?
Die Frage nach Schuld und Verantwortung beantwortet ein Pfarrer: „Die Sünde liegt in der Absicht, nicht in der Tat. Darin unterscheidet sich göttliches von menschlichem Recht.“ Und an anderer Stelle spricht ein Geistlicher die Lebens- und Glaubensregel aus, der sich auch Lord Peter – trotz aller Zweifel – anschließt: „Es steht uns nicht an, allzuviel über das Morgen nachzudenken. Besser der Wahrheit folgen und es Gott überlassen, was daraus wird. Er sieht voraus, was wir nicht voraussehen können, denn er weiß alles.“
Dennoch: Die Verunsicherung über sein Tun wächst bei Lord Peter – eine psychologische Entwicklung, die sich über die insgesamt elf Romane hinzieht. Im letzten Band, „Hochzeit kommt vor dem Fall“, bittet Wimsey den von ihm gestellten Mörder vor seiner Hinrichtung um Verzeihung – sie wird ihm verweigert. Eine gottesdienstliche Lesung aus dem Buch Jeremia erschüttert ihn tief: Ist es wirklich „gerecht“, dem „Ungerechten“ Fallen zu stellen und ihn dem weltlichen Urteil auszuliefern?
Die Frage bleibt offen – auch der strahlende Held kann sich nur der göttlichen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit anvertrauen.
