Ich kannte mal einen Mann, der hatte einen dunklen Keller. Der Mann war der Vater einer Klassenfreundin, und wenn wir zu Besuch kamen, verschwand der Mann in diesem Keller. Die Mutter sagte dann: „Er geht ins Arbeitszimmer.“
Einmal erhaschte ich einen Blick durch die Tür: Sofa, Tisch, Stuhl; düstere Farben. Und ein riesiges Poster, das eine Eislandschaft zeigte, durch die ein kleiner Junge in einem Ruderboot trieb.
Der Mann stammte aus Ostpreußen. Wenn man sich mit der Geschichte der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg befasst, stößt man immer wieder auf derartige Beschreibungen: Traumatisierte Menschen, die sich schwertaten, jemals wieder Herz und Seele zu öffnen. Aber auch jene, die nicht fliehen mussten, sondern zuhause Bombenhagel und Hunger erlebten, waren für den Rest ihres Lebens verändert. Der Krieg war vorbei. Deutschland erblühte in neuem Glanz. Aber Herzen und Seelen der Menschen blieben verletzt. Und diese Verletzungen gaben sie weiter – an ihre Kinder, Enkel und Urenkel. Bis heute.
Unwillkürlich kommt einem eine Bibelstelle in den Sinn, 2. Mose 20. Dort sagt Gott: „Ich verfolge die Schuld der Väter an den Söhnen bis in die dritte oder vierte Generation.“ Tatsächlich haben die Auswirkungen des Kriegs auf die Seele der Deutschen ja viel mit Schuld und Scham zu tun. Die Nazis? Das waren immer die anderen. Die eigenen Leute, Väter, Söhne, Brüder, Mütter, Schwestern – die hatten angeblich nichts gewusst oder hätten ja doch nichts ändern können. Dazu die Erfahrungen von eigenem Leid, Verfolgung, Not, Mangel und Vergewaltigung. All das wurde weggeschlossen, eingemauert hinter einer Wand aus Beton.
Aber Verletzungen der Seele sind wie die Fäule: Hinter einer zugemauerten Wand fressen sie sich immer tiefer ins Gebälk.
Und so haben wir Deutschen bis heute kein heiles Verhältnis zu unserer Vergangenheit. Auch wenn sich da einiges getan hat in den vergangenen Jahren.
Wir haben aber auch kein heiles Verhältnis zu uns selbst. Zu unseren Gefühlen. Zu unseren Hemmungen. Zu unseren Ängsten. Doch das muss nicht so bleiben. Fachleute wissen den Weg: sich öffnen. Der Familiengeschichte nachspüren und sich ihr stellen. Fragen aussprechen. Immer wieder: Fragen, Fragen, Fragen. Das kann man jederzeit anfangen, dazu ist es nie zu früh oder zu spät. Reden. Mit Menschen, die eine ähnliche Familiengeschichte haben. Auch: mit Fachleuten aus Therapie und Seelsorge. Bücher und Internet bieten gute Ansatzpunkte dafür.
Warum das Ganze? Warum die Mühen?