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Ein christlicher Schriftsteller

Er war Pazifist, Atomkraftgegner und Moralist. Vor allem aber war er ein tiefgläubiger Mensch – auch wenn sein Glaube nicht immer den Dogmen der katholischen Kirche entsprach. Zum 100. Geburtstag Heinrich Bölls

epd-bild/Keystone

„Im Grunde interessieren mich als Autor nur zwei Themen: die Liebe und die Religion.“ So hat der 50-jährige Heinrich Böll sein literarisches Programm beschrieben. Und in der Tat durchziehen beide wie ein roter Faden die Mehrzahl seiner vielen hundert Veröffentlichungen. Erzählungen hat er geschrieben und Romane, Hörspiele und Theaterstücke, Gedichte und manch anderes mehr.
Heinrich Böll wird am 21. Dezember 1917 in Köln geboren. Das katholische Milieu seiner Heimatstadt begleitet ihn lebenslang. Je länger je mehr allerdings reibt er sich an ihm. Geleitet wird er nämlich von einem an der Radikalität der Liebesbotschaft Jesu ausgerichteten Glauben. Die Kirche, und nicht nur die katholische, ist für Böll so sehr durch ihre dogmatischen Lehren und ihre rechtlichen Setzungen eingegrenzt, dass sie immun geworden ist gegen die Grenzen aufbrechende Liebe Jesu. Darum tritt er 1976, wie er ausdrücklich betont, lediglich aus der Institution Kirche aus, versteht sich aber weiterhin als Christ. – An einer kurzen Auswahl sei gezeigt, dass Böll ein christlicher Schriftsteller ist.

Jesu Liebe bricht Grenzen auf

In seinem „Brief an einen jungen Katholiken“ von 1961 erinnert Heinrich Böll sich, wie er 1938 an einem Einkehrtag für Rekruten teilnahm. Ein Priester warnte eindringlich vor den sittlichen Gefahren des Krieges, worunter er Trunkenheit und Bordellbesuche verstand. „Kein Wort über Hitler, kein Wort über Antisemitismus, über etwaige Konflikte zwischen Befehl und Gewissen.“ Dafür gab es Aufforderungen zu Tapferkeit und Gehorsam. Böll wünschte sich „einen Priester, der einmal die Schwachen, die Feigen, die Plattfüßler, die körperlich Untüchtigen gegen diese Turnlehrertheologie verteidigen würde“.
So ein Priester müsste wohl selber schwach sein. Und genau solche Priestergestalten schildert Böll immer wieder mit offener Sympathie, etwa in seinem Roman „Und sagte kein einziges Wort“ von 1953. Da ist einerseits eine Kathedrale, die ebenso wie ihr Bischof den Krieg unversehrt überstanden hat. Als Repräsentant einer selbstgewissen Kirche feiert er prunkvolle Messen, während seine Predigten „stetig an Überzeugungskraft verloren haben“. Und da ist die Kirche „Zu den sieben Schmerzen Mariä“, vom Krieg schwer beschädigt und nur notdürftig repariert. In ihr finden sich Menschen, die ihrerseits angeschlagen und beschädigt sind. Das gilt auch für ihren Pfarrer: „Seine Zeugnisse waren mäßig, seine Predigten gefielen nicht, zu wenig Pathos erfüllte sie, und seine Stimme war zu heiser.“ Außerdem hatte er im Krieg „eine merkwürdige Weibergeschichte“. Aber er ist ein guter Seelsorger, dem sich viele gebrochene Menschen anvertrauen. Und er feiert auch Gottesdienst, als lediglich eine Frau mit ihrem behinderten Bruder gekommen ist. Hier findet sich Kirche, wie sie für Böll sein soll: eine Gemeinschaft, die Schutz sucht und bietet auch für schwache und kranke und behinderte Menschen. Sie sind wie Lämmer, um deren Herde sich der Pastor als Hirte zu kümmern hat.

Kirche für die Armen und Schwachen

Das Bild der Lämmer ist ein zentrales Motiv im Roman „Billard um halbzehn“ von 1959. Lämmer sind hier jene Menschen, die sich nicht dem Nationalsozialismus angepasst haben. Der Junge Hugo fragt, welche Folgen es denn hat, wenn seine Klassenkameraden regelmäßig zur Kommunion gehen und ihm trotzdem jeden Tag auflauern und ihm dabei den Spitznamen „Lamm Gottes“ verpassen. Sein Freund Schrella erklärt, dass sie offenbar vom Sakrament des Büffels gegessen haben. Lamm steht hier für die bedrohten, leidenden Menschen. Büffel steht für die Ellenbogen- und Herrenmenschen, die Durchsetzungswilligen, Kampf-, ja Mordbereiten.
Für Heinrich Böll ist das eine ihn selbst schmerzende Kirchenkritik, die auf viel Ablehnung stößt. Das gilt auch für sein für manche Ohren befremdliches Kirchenverständnis: „Ich brauche die Sakramente, ich brauche die Liturgie, aber ich brauche den Klerus nicht – grob gesagt – als Institution.“ Böll hat eine, wie er bekennt, „mystische“ Bindung zur Kirche. Sie kommt in manchem der reformatorischen Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche nahe.
Wie bedeutsam die Sakramente für Böll sind, ist auch darin ablesbar, dass er viele alltägliche Begebenheiten wie ein gemeinsames Frühstück, das Teilen einer Zigarette und nicht zuletzt die menschliche Liebe als ein sakramentales Geschehen schildert. Wer Augen hat zu sehen, erkennt darin die Liebe Gottes.
Die Liebe ist für Heinrich Böll ein Sakrament. Die Rechtsordnung Ehe allerdings sieht er in unaufhebbarem Gegensatz zu seiner Kirche nicht als Sakrament, denn Liebe lässt sich nicht verrechtlichen. Böll hat das besonders eindrücklich in der Liebe von Frauen geschildert. In der Erzählung von 1949 „Der Zug war pünktlich“ fühlt der Soldat Andreas seinen bevorstehenden Tod. In einem Lemberger Bordell trifft er das Mädchen Olina. Vor ihr legt er eine Lebensbeichte ab. Beide beten miteinander. In Olinas liebevoller Zuwendung und ihrem „reinen Gesicht“ erkennt er ein Zeichen von Gottes vergebender Liebe.

In mystischer Liebe verbunden mit Gott

Nein, Olina ist keine „reine Magd“, wie es in einem Weihnachtslied heißt, hat aber gleichwohl etwas Madonnenhaftes. Das gilt auch für viele andere Frauengestalten. Leni beispielsweise im Roman „Gruppenbild mit Dame“ von 1971 „steht mit der Jungfrau Maria auf vertrautem Fuß“. Sie empfindet nach ihrer Scheidung eine verbotene Liebe zum russischen Zwangsarbeiter Boris, der sie das Beten lehrt. Nach dessen Tod liebt sie den türkischen Gastarbeiter Mehmet. Ein Kritiker schrieb: „Eine häretische Marienlegende, kräftig abgedunkelt.“ Auch hier wieder sind es beschädigte Menschen außerhalb des kirchlichen Milieus, die in zwischenmenschlicher Liebe sich mystisch verbunden fühlen mit der Liebe Gottes.
Nein, Böll ist kein kirchlicher Erbauungsautor. Er ist ein katholisch geprägter Autor, dessen mystisches Glaubensverständnis ihn über die Grenzen seiner Kirche hinausführt. Er vertritt eine an Jesus und seiner Bergpredigt orientierte Religion der Liebe. Von daher ist Heinrich Böll überkonfessionell ein christlicher Autor.