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Ein Ausblick auf das Kinojahr und die Filmfestivals 2024

Nach Corona hat das Kino wieder in die Erfolgsspur gefunden. Und es lag nicht an den risikoarmen Blockbuster-Fortsetzungen. Kino bleibt offenbar überlebensfähig, wenn es sich immer wieder neu erfindet. Und wie geht es weiter?

Nach der Corona-Pandemie hat sich das Kulturleben 2023 weitgehend normalisiert. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Zahl der Kinobesucher noch einmal deutlich an. Optimistisch stimmt auch, dass sich risikoarme Erfolgsrezepte nicht als zeitlos erwiesen. Besonders die einst als verlässliche Kassenmagneten bekannten Superheldenfilme mit ihren x-ten Fortsetzungen blieben häufig unter den Erwartungen. Als hoffnungsvolle Schlussfolgerung lässt sich daraus ziehen, dass das Kino vor allem dann überlebensfähig bleibt, wenn es sich immer wieder neu erfindet.

Das Vertraute und Bewährte bleibt jedoch weiterhin entscheidend. Unter den drei meistgesehenen Kinofilmen in Deutschland befanden sich letztes Jahr mit “Barbie”, “Der Super Mario Bros. Film” und “Oppenheimer” immerhin zwei Franchises sowie ein Biopic über eine bekannte historische Persönlichkeit.

Vergleichsweise erfolgreiche Arthouse-Produktionen wie “Tar”, “Das Lehrerzimmer” und “Anatomie eines Falls” dürften wiederum von ihren Auszeichnungen, aktuellen gesellschaftspolitischen Themen sowie der Zugkraft ihrer Hauptdarstellerinnen profitiert haben. “Kleinere” Festivalfilme mit weniger publikumswirksamen Eigenschaften schaffen es zwar mittlerweile häufiger in die deutschen Kinos, haben es jedoch auch schwerer beim Publikum.

Während Anfang 2024 noch Beiträge aus dem letzten Cannes- und Venedig-Jahrgang die deutschen Kinoleinwände erreichen – etwa Hirokazu Koreedas “Die Unschuld”, Yorgos Lanthimos” “Poor Things”, Catherine Breillats “Im letzten Sommer”, Agnieszka Hollands “Green Border”, Ryusuke Hamaguchis “Evil Does Not Exist” und Jonathan Glazers “The Zone of Interest” – startet die Saison der A-Festivals mit der Berlinale (15. bis 25. Februar.) bereits wieder von vorne.

Nachdem das krisengebeutelte Festival in den letzten Jahren etwas an Glamour und internationaler Strahlkraft verlor, rückten dafür kleinformatigere Autorenfilme, nicht selten aus dem “Berliner Schule”-Umfeld, stärker ins Rampenlicht.

Naheliegende Kandidaten, die bei der Berlinale Premiere feiern könnten, um dann in die heimischen Kinos zu kommen, wären unter anderem Thomas Arslans “Verbrannte Erde”, eine Fortsetzung seines Film noir “Im Schatten”, sowie “Der Spatz im Kamin”, in dem sich Ramon und Silvan Zürcher nach “Das merkwürdige Kätzchen” und “Das Mädchen und die Spinne” wohl ein weiteres Mal ihren surreal poetischen Alltagsbeobachtungen widmen. Christoph Hochhäuslers Thriller “La mort viendra” über eine Auftragskillerin zielt als französischsprachige Produktion vermutlich eher auf eine Uraufführung in Cannes.

Wegen der höheren Renommees von Cannes und Venedig, aber auch wegen der traditionsreichen Beziehung mancher Regisseure mit den Festivals, finden auch andere Produktionen vermutlich eher dort eine Bühne. Etwa Leos Carax’ filmisches Selbstporträt “C’est pas moi” oder Bruno Dumonts Science-Fiction-Komödie “L’Empire”, dessen Plot über außerirdische Ritter in einem nordfranzösischen Fischerdorf an die kauzigen Charakterköpfe aus Dumonts TV-Serie “Kindkind” denken lässt.

Mit Spannung erwartet wird auch David Cronenbergs “The Shrouds”, der mit einem gewohnt grenzüberschreitenden, um körperliche und emotionale Entfremdung kreisenden Plot aufwartet. Ein trauernder Witwer (Vincent Cassel) entwickelt darin ein Gerät, mit dem Angehörige dem Verwesungsprozess ihrer verstorbenen Lieben beiwohnen können.

Auch US-Regisseur Sean Baker scheint sich mit dem als Komödie über zwei Sexarbeiter angekündigten “Anora” auf ähnlichem Terrain zu bewegen wie zuvor in “Tangerine” und “Red Rocket”. Und nachdem Steve McQueens Dokumentarfilm “Occupied City”, der von der Besetzung Amsterdams durch die Nazis erzählt, bereits letztes Jahr an der Croisette lief, könnte der britische Regisseur mit seinem Drama “Blitz” über die Bombardierung Londons während des Zweiten Weltkriegs dieses Jahr zurückkehren.

Ebenfalls in der Postproduktion befinden sich Andrea Arnolds “Bird” mit Franz Rogowski und Lynne Ramsays “Polaris”, in dem Joaquin Phoenix Ende des 19. Jahrhunderts auf den Teufel trifft. Audrey Diwan (“Das Ereignis”) hat ein Remake des Erotik-Klassikers “Emmanuelle” über die sexuellen Abenteuer einer Diplomaten-Gattin gedreht. Und während der Start von Luca Guadagninos Tennis-Romanze “Challengers” wegen des Schauspielerstreiks vom Herbst auf Mai verschoben wurde, hat der italienische Regisseur in der Zwischenzeit bereits seine William-S.-Burroughs-Adaption “Queer” mit Daniel Craig abgedreht.

Im regulären Kinobetrieb starten in diesem Jahr unter anderem zwei Filme, in die, auch wegen der Vorgänger-Werke ihrer Regisseure, hohe Erwartungen gesetzt werden. Im März läuft Bong Joon-hos (“Parasite”) Science-Fiction-Film “Mickey 17” an, in dem ein Klon (Robert Pattinson) während einer gefährlichen Mission auf einem Eisplaneten Bekanntschaft mit den außerirdischen Einheimischen macht. Im Oktober erscheint dann Todd Phillips’ “Joker 2: Folie A Deux”, der an die Vorgeschichte von Batmans diabolischem Gegenspieler anknüpft. Nachdem sich in den Showelementen von “Joker” bereits der Realitätsverlust des Protagonisten abzeichnete, wird das in einer Psychiatrie angesiedelte Sequel nun vollends zum Musical. An der Seite von Joaquin Phoenix ist Lady Gaga als Psychiaterin zu sehen, die durch die Bekanntschaft mit dem Joker zur Schurkin Harley Quinn wird.

Dazu gibt es diverse weitere Franchise-Fortschreibungen: So wird etwa mit “Planet der Affen: New Kingdom” ein weiteres Kapitel der Science-Fiction-Saga um den Niedergang der Menschheit als dominante Spezies auf der Erde und den Aufstieg der Primaten aufgeschlagen.

Noch ohne Kinostart, aber voraussichtlich in diesem Jahr fertig ist die neue Kooperation von Regisseur Paul W.S. Anderson mit seiner Frau und Hauptdarstellerin Milla Jovovich. Das vor allem durch die mit reichlich B-Movie-Charme ausgestattete “Resident-Evil”-Reihe populäre Paar nimmt sich in “In the Lost Lands” einer Fantasy-Kurzgeschichte von George R.R. Martin (“Game of Thrones”) an. Ein Wiedersehen gibt es auch mit Mel Gibson, der als Regisseur mitreißend martialischer Spektakel wie “Apocalypto” durchaus ein wenig verkannt ist. In seinem Thriller “Flight Risk” muss Mark Wahlberg als Pilot einen gefährlichen Häftling zu seinem Prozess fliegen.

In Hollywood hat es sich in den letzten Jahren eingebürgert, die Macher erfolgreicher Independent-Filme für große Blockbuster zu verpflichten. Die Strategie, dadurch frischen Wind in die kommerzielle Filmindustrie zu bringen, ist umstritten, weil die meist aus dem Dramen-Fach kommenden Regisseure oft nicht mit dem entsprechenden Genre-Handwerk vertraut sind. Es bleibt abzuwarten, wie sich zwei kommende Projekte in dieser Hinsicht schlagen werden. Lee Isaac Chung (“Minari”) hat eine Fortsetzung zu Jan de Bonts Katastrophenfilm “Twister” (1996) gedreht und Barry Jenkins (“Moonlight”) mit “Mufasa: Der König der Löwen” ein Realfilm-Prequel des bekannten Disney-Abenteuers.

Der regelmäßig zwischen Independent- und Mainstream-Kino wechselnde Steven Soderbergh hat sich derweil wieder einer seiner intimeren, meist technisch experimentellen und gesellschaftspolitisch unterfütterten Genrearbeiten gewidmet. Der Horrorfilm “Presence” handelt von einer Familie, die in ihrem neuen Zuhause feststellen muss, dass sie nicht allein ist, und feiert im Januar auf dem Sundance Film Festival seine Premiere.

Mit Martin Scorsese, Marco Bellocchio, John Woo und Steven Spielberg haben sich 2023 gleich mehrere Regisseure um die 80 auf der Höhe ihres Könnens präsentiert. Auch im kommenden Kinojahr wird vereinzelt wieder mit feinsinnigem Handwerk und altmeisterlichem Klassizismus zu rechnen sein. Während der unermüdliche Ridley Scott in “Gladiator 2” Paul Mescal (“Aftersun”) in die Arena schickt, reicht er die von ihm maßgeblich geprägte “Alien”-Reihe an eine jüngere Generation weiter: Das zwischen dem ersten und zweiten Teil angesiedelte Reboot “Alien: Romulus” wurde von Fede Alvarez (“Don”t Breathe”) inszeniert und hat mit Cailee Spaeny (“Priscilla”) eine neue Heldin.

Und vermutlich wird man dieses Jahr auch Francis Ford Coppolas bereits seit den 1980er-Jahren geplantes und im März 2023 endgültig abgedrehtes Großprojekt “Megalopolis” zu Gesicht bekommen. Ein visionärer Architekt (Adam Driver) will in dem Science-Fiction-Epos das von einer Naturkatastrophe zerstörte New York als Utopie neu errichten.

Neues gibt es auch von Ethan Coen: Mit “Drive-Away Dolls” hat er – diesmal ohne seinen Bruder Joel – ein Roadmovie auf die Beine gestellt, in dem zwei Freundinnen bei einem improvisierten Trip gen Tallahassee an eine Bande Krimineller geraten.

Mit seinen Filmen über zerrissene Alltagshelden ist der mittlerweile 93-jährige Clint Eastwood in den letzten Jahren noch einmal regelrecht aufgeblüht. Der Thriller “Juror #2”, in dem ein Geschworener (Nicholas Hoult) eines Mordprozesses mit einem moralischen Dilemma konfrontiert wird, soll nun aber sein endgültig letzter Film sein.

Auffällig und auch erfreulich war im vergangenen Jahr, dass die aufsehenerregenden Filme wieder zum größten Teil im Kino zu sehen waren. Selbst wenn, wie im Fall von “Maestro” oder “Napoleon”, Streaming-Anbieter bei der Produktion involviert waren, liefen die Filme vorab in Lichtspielhäusern. Einige, überwiegend von der großen Leinwand bekannte Regisseure versuchen sich aktuell jedoch auch wieder am episodischen Erzählen für den kleinen Bildschirm. Alfonso Cuaron etwa hat für Apple TV+ die auf Renee Knights Roman “Deadline” basierende Miniserie “Disclaimer” realisiert. Cate Blanchett spielt darin eine berühmte TV-Journalistin, deren dunkles Geheimnis eines Tages detailliert in einem Buch ausgebreitet wird.

Auch Viet Thanh Nguyens Bestseller “Der Sympathisant” über einen vietnamesischen Spion im Los Angeles der 1970er-Jahre wurde für den Pay-TV-Sender HBO adaptiert. Drei Folgen der, unter anderem mit Robert Downey jr. besetzten Polit-Serie “The Sympathizer” hat der Südkoreaner Park Chan-Wook (“Die Frau im Nebel”) inszeniert. Und auch David Lynchs 13 Folgen umfassende Netflix-Serie “Unrecorded Night” dürfte bald das Licht der Welt erblicken.