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Echt-Zeit-Doku “Einhundertvier” über eine Seenotrettung

“Echtzeit”-Dokumentarfilm über die Seenotrettung von 104 Menschen auf dem Mittelmeer, deren Schlauchboot unterzugehen droht.

Am 26. August 2019 rettete das Rettungsboot der deutschen Hilfsorganisation “Mission Lifeline” im Mittelmeer 104 Menschen vor dem Ertrinken. Die Flüchtlinge waren mit einem blauen Schlauchboot von Libyen in Richtung Italien unterwegs, als ihr völlig überfülltes Boot zunehmend Luft verlor.

In die Medien schafften es Retter wie Gerettete jedoch erst eine gute Woche später, als sich Kapitän Claus-Peter Reisch über das Verbot des italienischen Innenministers Matteo Salvini hinwegsetzte und in der sizilianischen Hafenstadt Pozzallo anlandete. Erst durch die Konfrontation mit den Behörden wurde die Rettungsaktion zum Ereignis, das einen Tag lang die Hauptnachrichten dominierte. Was weiter geschah und auf dem Mittelmeer bis heute geschieht, bleibt außerhalb der Wahrnehmung: dass Menschen auf der Flucht elendiglich ertrinken und potenzielle Retter gehindert oder sogar kriminalisiert werden.

Der Dokumentarfilm “Einhundertvier” kann diese Informationslücke nicht grundsätzlich beseitigen. Allerdings lassen die vier Preise aufhorchen, mit denen der Film beim Dokfilm-Festival 2023 in Leipzig ausgezeichnet wurde.

Der ungewöhnliche, weil nahezu in Echtzeit ablaufende Film verdankt sich den beiden Dokumentaristen Jonathan Schöring und Adrian Then, die mit an Bord der “Eleonore” waren, wie der für den Seenoteinsatz umgerüstete holländische Fischkutter getauft wurde. Mit sechs Kameras hielten sie das Geschehen rund um die erste Rettungsaktion fest und schufen daraus einen einzigartigen Film, der weitgehend auf Schnitte verzichtet.

In der ersten Einstellung sieht man den Bug eines Schnellbootes, das mit hoher Geschwindigkeit einem Punkt am Horizont entgegenjagt. Die Dünung und die Fahrgeräusche dominieren das Bild, das nur einen kleinen Teil der Leinwand rechts oben füllt. Nach und nach kommen weitere Bildkacheln hinzu, die andere Aspekte des Geschehens einfangen, wobei zwei Kameras starr und zwei auf Helmen montiert sind, während zwei von der Hand geführt werden. Insgesamt lassen sich so bis zu sechs parallele Perspektiven verfolgen.

Die “Handlung” erschließt sich ausschließlich aus den O-Tönen, die viel von der Dramatik, der Anspannung und Hektik an Bord und auch dem Schnellboot vermitteln. Man wird mitten hingeworfen in die Suche am 26. August, als die “NGO Alarmphone” mehrere Boote in Seenot meldet.

Als das blaue Schlauchboot mit den 104 Flüchtlingen entdeckt wird, beginnt ein nervenaufreibender Wettlauf gegen die Zeit, weil zuerst mehr Schwimmwesten vom Schiff herbeigeschafft werden müssen, und dann auch jeweils nur acht bis zehn Menschen mit zurücktransportiert werden können. Es braucht viel Geschick und klare Anweisungen, damit unter den Flüchtenden keine Panik aufkommt und das Boot nicht kentert. An Bord der “Eleonore” knirscht es währenddessen ebenfalls, weil die Crew unterfahren ist und viele Handgriffe noch nicht sitzen.

Weitere Spannung kommt auf, als sich ein mächtiges Boot der libyschen Küstenwache einmischt und die Rettungsaktion bedrängt. Der Zuschauer erlebt die Unsicherheit der Retter hautnah mit – auch ihres Kapitäns, der die Libyer in höchsten Tönen zur Änderung ihres aggressiven Verhaltens auffordert. Erst als alle Menschen an Bord der “Eleonore” sind, ist ein Anflug von Entspannung zu spüren. Gelassenheit und sogar Fröhlichkeit machen sich aber erst viel später breit, als die Libyer verschwunden sind.

Insgesamt dauert der Einsatz knapp 90 Minuten, fast die komplette Laufzeit des Films. “Einhundertvier” ermittelt durch die Splitscreen-Ästhetik eine Fülle unterschiedlichster Informationen, Momente und Emotionen. Es liegt über weite Strecken am Betrachter, welche Bildkacheln er gerade verfolgt oder aufeinander bezieht. Jeder Zuschauer ist sein eigener Regisseur.

Wie unvertraut eine solche Rezeption ist, spürt man, wenn der Film zum Schluss die Kachel-Logik zugunsten einer einzigen leinwandfüllenden Einstellung aufgibt: Da sieht man die Geretteten an Bord, wie sie mit der Besatzung gemeinsam Lieder singen – und spürt plötzlich wieder die identifikatorische und emotionale Macht eines “herkömmlichen” Kinofilms.