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Doku über Leben und Sterben von Kriegsfotografin Anja Niedringhaus

Anja Niedringhaus war eine Ausnahme-Fotografin. Auch im Krieg suchte und fand sie stets das Menschliche. Eine Arte-Dokumentation setzt ihr ein Denkmal – und lässt doch Fragen offen.

Was sie als Frau hier überhaupt suchen würde, fragte sie ein ungehaltener Kollege, als sie im Bosnienkrieg erstmals als Fotoreporterin im Einsatz war. Das unschöne, aber prägende Ereignis markierte den Beginn eines erfolgreichen Berufslebens. In ihrer vom SWR verantworteten Arte-Dokumentation blicken Sonya und Yuri Winterberg zurück auf die Karriere der Kriegsfotografin Anja Niedringhaus und ihr blutiges Schicksal.

Frauen sind in diesem Beruf unterrepräsentiert. Daher sollte man jene Handvoll namhafter Kolleginnen von Anja Niedringhaus zumindest erwähnen. Die Französin Catherine Leroy (1944-2006) zählte zu den wenigen Frauen, die direkt an der Front des Vietnamkriegs fotografierten. Ihre Bilder erschienen unter anderem im Life Magazine. Die Arbeit von Christine Spengler zeichnet sich durch eine persönliche Handschrift aus. Françoise Demulder (1947-2008), bekannt durch ihre Bilder aus dem Nahen Osten, erhielt als erste Frau den World Press Photo Award. Die Bilder der 1973 geborenen Amerikanerin Lynsey Addario erschienen in der “New York Times” und in “National Geographic”.

In diese Reihe gehört auch Anja Niedringhaus, deren Leben bereits mit fiktionalen Mitteln umgesetzt wurde. Roman Kuhns ZDF-Produktion “Die Bilderkriegerin”, eine Mischung aus Biopic und Dokudrama mit Antje Traue in der Titelrolle, erhielt allerdings nur mäßige Kritiken. Sonya Winterberg (Regie) und ihr Mann Yuri (Buch) konzentrieren sich jetzt in ihrer Dokumentation auf biografische Fakten, denen sie sich geradlinig annähern. So erinnert ihr Film an die Anfänge von Anja Niedringhaus, die zu Beginn der 1990er Jahre zunächst über Sport- und Gesellschaftsereignisse berichtete, bevor sie 1992 in den Jugoslawien-Krieg entsandt wurde. Nachdem sie in den folgenden Jahren zahlreiche Konflikte weltweit fotografiert hatte, markierte ihre Anstellung bei der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) im Jahr 2002 einen Karrieresprung. In dieser Funktion nahm sie unter anderem als Reporterin mit der US-Armee 2003/2004 “embedded” am zweiten Irakkrieg teil.

Als erste deutsche Fotojournalistin wurde sie dafür (gemeinsam mit neun anderen Kollegen) mit einem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Das Motiv, für das sie geehrt wurde, lässt ihr besonderes Gespür erahnen. Das entscheidende Foto zeigt einen jungen US-Marineinfanteristen, aus dessen Rucksack das GI-Joe-Maskottchen als Glücksbringer herausschaut. Diese Puppe, die man auch mit einem Kind assoziieren kann, symbolisiert den Wunsch nach etwas Menschlichem inmitten der Kriegswirren.

Der Blick für solche Situationen, die von vielen anderen wohl übersehen würden, war zugleich Anja Niedringhaus’ Markenzeichen. Über das Gespür für solche Momente, die mit zahlreichen anderen Motiven illustriert werden, spricht die Fotografin ausführlich. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen, erklärt sie, habe sie an Kriegsschauplätzen nicht das geringste Interesse an Waffenarten oder speziellen Panzer-Typen. Männer mit Gewehren im Anschlag – sogenannte “Bang Bang Fotos” – musste sie als Kriegsberichterstatterin natürlich auch abliefern. Doch ihr eigentliches Interesse galt stets dem Unerwarteten jenseits der “eigentlichen” Kampfhandlungen. Daher haben ihre Motive zuweilen etwas Poetisches, auch wenn dieses Wort bei Kriegsfotografien seltsam klingen mag.

Über ihren persönlichen Bezug zu derartigen Motiven spricht Anja Niedringhaus ausführlich in Interviews. Diese lebendigen Gespräche heben den Film auf eine andere Ebene. Selten geschieht es in Dokumentationen, dass die Ausstrahlung des Protagonisten dem Thema noch eine Dimension hinzufügt. Ohne eitel oder prätentiös zu erscheinen, entwickelt Anja Niedringhaus vor der Kamera beinahe die Qualitäten eines Filmstars.

Dieses Charisma, sagen ihre in der Doku zu Wort kommenden Kollegen, hätte Anja Niedringhaus die Arbeit erleichtert. Dank ihrer Offenheit habe sie in Krisengebieten einen unkomplizierten Zugang zu Menschen gefunden. Auch der Titel des Films – “Den Menschen im Fokus” – spielt auf ihr Gespür für aussagekräftige Motive an, die eine komplexe Situation zu einem magischen Moment einfrieren. Aufgrund dieser Leidenschaft für das Unvorhersehbare, so erklärt Niedringhaus, könne sie niemals als Fotografin in einem Studio arbeiten, in dem etwas Vorgegebenes künstlich arrangiert werden soll.

Aufgrund ihres visuellen Gespürs für das gewisse Etwas war sie auch, was weniger bekannt ist, eine gefragte Sportfotografin. Denn auch auf dem Centercourt in Wimbledon hielt sie, so führt die Doku vor Augen, magische Momente fest. Für diesen Job gilt das gleiche wie für ihre Kernkompetenz als Berichterstatterin an internationalen Krisenschauplätzen: Die Regeln des Sports interessierten sie so wenig wie das Handwerk des Krieges. Und wenn sie dann im Getümmel von Wimbledon auf den Auslöser drückte, fragte sich diese Frau, die ihr Leben im Angesicht des Todes verbrachte: “Mein Gott, was haben die denn hier für Probleme?”

Der Film von Sonya und Yuri Winterberg ist auch ein Rückblick in eine Epoche, in der sich die Verwertungslogik von Fotos aus Krisengebieten noch nicht durch Social Media verändert hatte. Anja Niedringhaus arbeitete zu einer Zeit, in der es im Internet noch keine Flut von Bildern an der Grenze zwischen Fake News, Deepfakes und Propaganda gab – wobei die Doku dieses Thema allerdings nicht direkt aufgreift.

Zu Beginn und am Ende erinnert der Film an das tragische Ende der Ausnahme-Fotografin, die sich als Frau zwar in einer Männerwelt behauptete, aber ihren Job mit dem Tod bezahlte. Als sie am 4. April 2014 in Banda Khel im Osten Afghanistans über die anstehenden Präsidentschaftswahlen berichtete, wurde sie ermordet. Ausführlich geschildert wird das Ereignis von der kanadischen Kollegin und Freundin Kathy Gannon, die neben Anja Niedringhaus in jenem Auto saß, auf das ein afghanischer Polizist, der zuvor von US-Amerikanern ausgebildet worden war, mit einer Maschinenpistole das Feuer auf sie eröffnete. Niedringhaus war sofort tot, Gannon überlebte schwer verletzt. Erschüttert berichtet der afghanische Chauffeur von den letzten Momenten im Leben von Anja Niedringhaus. Seine Ergriffenheit führt vor Augen, wie überaus beliebt die Fotografin auch in Afghanistan war.

Trotz dieser vermeintlichen Ausführlichkeit wird die Situation im Film nur ungenau wiedergegeben. Nicht erwähnt wird, was mehrere seriöse Quellen übereinstimmend berichten: dass der Mörder von Anja Niedringhaus beim Angriff “Allahu Akbar!” (“Gott ist groß!”) gerufen hat. Die Auslassung dieses Mordmotivs ist problematisch im Hinblick auf die gegenwärtige Situation in Afghanistan, wo nach dem Rückzug der USA und der NATO im Jahr 2021 die islamistischen Taliban wieder die Macht übernommen haben. Nicht erwähnt wird zudem, dass Anja Niedringhaus’ Mörder zunächst zum Tode verurteilt wurde, dann aber die Strafe – auch durch die Intervention der deutschen Regierung – in eine zwanzigjährige Haft abgemildert wurde.

In einer früheren Ankündigung des Films unter dem Arbeitstitel “Headshots” hieß es noch: “Neue Ermittlungen führen zu den Hintermännern des Anschlags und ergeben ein bestürzendes Fazit: Der Mord war geplant und hätte vermieden werden können.” Nun aber fehlt dieser Kontext in der Dokumentation über eine Frau, die stets auf der Suche nach der Wahrheit war. Sind die Informationen zu diesen Ermittlungen der Kürzung des Dokumentarfilms für die einstündige Arte-Version zum Opfer gefallen? Von diesen offenen Fragen abgesehen, gelingt Sonya und Yuri Winterberg ein sehenswerter, streckenweise ergreifender Film.