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Die vergessene Bestsellerautorin

Sie war im 19. Jahrhundert eine Bestsellerautorin, war mit Justinus Kerner und Ludwig Uhland befreundet – und ist heute so unbekannt, dass sogar viele Germanisten sie nicht kennen: Die Rede ist von der Tübinger Schriftstellerin Ottilie Wildermuth (1817-1877). Über viele Jahre bis weit ins 20. Jahrhundert wurden ihre Texte von Generationen von Leserinnen und Lesern jeden Alters geschätzt und in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Der Historiker Jonathan Schilling (Ludwigsburg) will die Schriftstellerin aus der Vergessenheit holen und hat eine erste umfassende Arbeit in Form einer Promotion über die Schriftstellerin geschrieben. Dafür ist er mit dem 15. Johannes-Brenz-Preis des Vereins für württembergische Kirchengeschichte ausgezeichnet worden. Der 31-Jährige, der an der Universität Münster promoviert hat, ist überzeugt: Die Autorin, die zahlreiche Erzählungen, aber auch Gedichte, Novellen und Lebensbilder verfasst hat, kann auch noch Leute von heute inspirieren.

So habe sie im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71, in dem in Deutschland ein Franzosenhass an der Tagesordnung war, bewusst den Kontakt zu ihren französischen Freunden gehalten. „Ihr war es wichtig, in ihnen nicht die verfeindete Nation, sondern Menschen zu sehen.“ Auch gegen Antisemitismus ging sie vor, wie eine ihrer Erzählungen zeigt. Darin schildert sie, wie ein jüdisches Mädchen in der Klasse von ihren Mitschülerinnen gemobbt wird. „Sie greift die antisemitischen Stereotype auf, die damals kursierten, um sie durch die Geschichte zu entkräften.“ Obwohl die pietistisch geprägte Schriftstellerin eine konservative Sexualmoral vertrat, habe sie sich zu einer Professorentochter gestellt, die in Tübingen verschrien war, weil sie in flagranti mit einem Studenten angetroffen wurde. „Da war sie sehr menschenzugewandt.“

Christliche Themen, wie zum Beispiel das Gebet, baut sie subtil in ihre Texte ein. Ein Anliegen Wildermuths, die mit einem Gymnasialprofessor verheiratet war und drei Kinder hatte, ist die „Mission Zufriedenheit“, wie sie es nennt. So erzählt sie von verschiedenen Leuten, die mit ihren Lebensumständen unzufrieden sind: Arme, die neidisch auf Reiche blicken und Reiche, die auf diejenigen neidisch sind, die ein freieres Leben führen können. „Ihr ging es darum zu zeigen, dass Glück nicht von äußeren Umständen abhängt, sondern eine Einstellungssache ist.“

Doch das Eintreten für Genügsamkeit hat nicht bedeutet, dass sie Ärmere billig vertröstete, betont der Historiker: „Sie war sozial sehr engagiert, hat die Gründung des ersten Kindergartens in ihrer Heimatstadt Marbach am Neckar maßgeblich finanziell unterstützt und wurde auch vom Tübinger Gemeinderat zurate gezogen, wenn es darum ging, Hilfsgaben an Arme zu verteilen.“ Der Grund: Man wusste, dass Wildermuth unparteiisch ist und alle Armen in der Stadt persönlich kennt.

Aber woran liegt es, dass diese beeindruckende Persönlichkeit heutzutage kaum jemandem mehr ein Begriff ist? Jonathan Schilling erklärt das dadurch, dass sie zwar viele spannende und humorvolle Geschichten schrieb, darunter auch ihr bekanntestes Werk „Schwäbische Pfarrhäuser“, diese aber alle Kurzgeschichten waren. „So um 1900 hat es angefangen, dass die Leute lieber längere Romane lesen wollten.“ Im 20. und 21. Jahrhundert kam noch hinzu, dass diese Romane verfilmt werden mussten, um berühmt zu bleiben, was bei Kurzgeschichten wegen ihres knappen Stoffs nicht möglich war. Als Beispiel nennt er „Heidi“ von Johanna Spyri (1828-1901). „Die beiden Kinderbücher wurden im 19. Jahrhundert sehr populär und heute kennt man sie nur noch als Film oder Mangaserie. Dasselbe ist bei Buchklassikern wie Dschungelbuch oder der Kleine Lord der Fall.“

Jonathan Schilling hofft, dass wieder mehr Menschen die Schriftstellerin und ihren gedanklichen Reichtum entdecken. Neben seinen Publikationen setzt sich Schilling dafür ein, dass Wildermuths Gedicht „Gottvertrauen“, das auf verschiedene Melodien gesungen werden kann, in das Gesangbuch aufgenommen wird, das die Evangelische Kirche in Deutschland bis 2030 erarbeiten will.

Abgesehen von dem Tübinger Wildermuth-Gymnasium, das nach Ottilie Wildermuth benannt ist und das auch Jonathan Schilling besucht und das ihn auf diese Persönlichkeit gestoßen hat, gilt für die damalige literarische Berühmtheit, was sie selbst formuliert hat: „Und schreibt die Welt den Namen dein einst nicht in Stein und Erz, begnüge dich, wenn dein gedenkt ein warmes Menschenherz.“ (2648/24.11.2024)