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Die Menschenhändler

„Warum brauchte der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker ständig neue Kellner? Weil ihn jeder fragte: Darf ich nachgießen (nach Gießen)?“ Ehemalige politische Gefangene der DDR erzählen sich diesen Witz bis heute gern. In Gießen befand sich nämlich das zentrale Notaufnahmelager der Bundesrepublik. Für viele DDR-Bürger war es ein Ort der Hoffnung. In der hessischen Universitätsstadt kamen all jene an, die in der DDR aus politischen Gründen ins Gefängnis gesteckt und dann von der Bundesregierung freigekauft worden waren – zwischen 1963 und 1990 genau 33.755 Männer und Frauen.

Einer von ihnen war Andreas Truckenbrodt. Der 64-jährige gebürtige Erfurter lebt heute im baden-württembergischen Tuttlingen. Zwischen 1978 und 1984 saß er insgesamt 28 Monate im Gefängnis – wegen „Fahnenflucht im schweren Fall“, „Beeinträchtigung staatlicher Organe“ und „landesverräterischer Agententätigkeit“. Er hatte als Soldat der Nationalen Volksarmee (NVA) versucht, über die Berliner Mauer in den Westen zu gelangen. Nach Haftaufenthalten in Brandenburg, Cottbus und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) wurde er 1984 freigekauft.

Die Initiative zu diesem geheimen und umstrittenen Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte ging wohl von der DDR aus. „Hinter dem Angebot der DDR-Führung stand das Ziel, eine lukrative Geldquelle zu erschließen“, weiß der Historiker Jan Philipp Wölbern, Autor des Buches „Der Häftlingsfreikauf aus der DDR zwischen 1962/63 und 1989 – Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen“.

Die ersten acht DDR-Bürger wurden 1963 freigekauft – für Beträge zwischen 15.000 und 50.000 D-Mark pro Person. Es sollte allerdings das einzige Mal bleiben, dass die Bundesregierung dafür in bar zahlte; später gab es nur noch Waren im entsprechenden Gegenwert, etwa Mais, Butter und Kaffee. Geliefert wurde über das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Im Westen herrschte die Hoffnung, mit solchen Warenlieferungen der DDR-Bevölkerung zu helfen – nach dem Motto: statt Geld lieber Güter für die Menschen. Doch häufig kamen die Waren dort nicht an. Öl, Kupfer und Kautschuk wurden an den Rohstoffbörsen einfach weiterverkauft. „Drei Viertel der erlösten Gelder, die die DDR mit den Häftlingsfreikäufen seit 1974 verdiente, sind direkt in deren Zahlungsbilanz eingeflossen“, sagt der Historiker Wölbern.

Er hält es für „sehr wahrscheinlich“, dass die DDR in den 80er Jahren auch gezielt mehr Bürger verhaftete, um sie anschließend gegen Devisen einzutauschen. In jedem Staatsfeind steckte ein erhebliches finanzielles Potenzial. Wichtige Hinweise aus den Akten der Stasi-Unterlagenbehörde sprächen dafür, dass das Freikaufprogramm in den 80er Jahren zur Umkehr der Ursächlichkeiten führte: Häufig war nicht mehr die Verhaftung Grund für den Freikauf, sondern die in Aussicht stehenden Gelder waren Ursache für die Inhaftierung. Gelangte in den 60er Jahren nur jeder achte politische Häftling in der DDR auf diese Weise in Freiheit, war es in den 80er Jahren bereits jeder Zweite.

Für Andreas Truckenbrodt ging es am 22. Februar 1984 in die Freiheit. Ein weißer Magirius-Deutz-Bus brachte ihn von Karl-Marx-Stadt nach Gießen. Dort erkundigte er sich, in welcher Region die Arbeitslosigkeit am niedrigsten sei – und entschied sich für Baden-Württemberg, wo er auch sofort eine Anstellung in einem Wohnungsbauunternehmen fand. Hat die Bundesrepublik mit diesem „Geschäftsmodell“ ein Unrechtsregime gestützt? „Nein“, sagt Truckenbrodt. Er ist dankbar, dass es diese Möglichkeit gab. Einerseits habe man mit den insgesamt 3,4 Milliarden D-Mark zwar den wirtschaftlichen Kollaps der DDR hinausgezögert, andererseits sei damit das Leid von fast 34.000 Menschen gelindert worden: „Wer weiß, was sonst aus ihnen geworden wäre.“