Stralsund. Alles wuchs, Anfang der 1970er in der DDR. In Stralsund, Knieper West zum Beispiel, wuchs ein ganzer neuer Stadtteil in den Himmel. „Tausende junge Familien lebten dort – wie wir“, erinnert sich Gemeindeglied Friedrun Jaeger. In dieser modernen sozialistischen Welt gab es keine langen Wege zu Kindergarten oder Schule, zum Arzt oder zur Kaufhalle. „Für alles war gesorgt“, erinnert sie sich. Nur eines fehlte: eine Kirche.
Dabei lebten hier inzwischen mehr Menschen als in der Altstadt, und der Weg in die zerfallenden Kirchen dort war aufwendig.
Es mag ein ungewöhnliches Bild gewesen sein in der neuen Stadt aus Beton, wie der junge Pastor Winrich Jax von Tür zu Tür und zog, um seine Herde zusammen zu finden – und um mit ihr nach einem Versammlungsort zu suchen, nach einer Oase.
Am Anfang wurden Gesprächskreise in engen Wohnungen zu solchen Oasen. „Die Apothekerin und die Ärztin, der Lehrer, der Künstler, die Sachbearbeiterin, die Erzieherin und der Pastor und viele andere kamen zusammen“, wie sich Friedrun Jaeger erinnert, „zu Gesprächen über Bibeltexte und Christsein in der atheistischen Gesellschaft, auch zum Plaudern und Essen und zum Gebet für die wachsende Gemeinde.“ Dankbar denkt sie zurück. Wie auch der „junge Pastor“, der kürzlich übrigens seinen 75. Geburtstag feierte. Denn alles das ist Jahrzehnte her. Das Gemeindezentrum, das aus diesen Hauskreisen schließlich emporwuchs, feierte am Wochenende seinen 40. Geburtstag.
Eine Kirche in der sozialistischen Stadt
Doch bis zur Einweihung war es ein weiter Weg. „Was stand da nicht alles an menschlichen Kämpfen“, sagt Jax. „Aber das hat uns stark gemacht.“ Die Idee, die sie damals in die Tat umsetzten, war noch nicht an der Praxis geprobt: Eine moderne Neubau-Kirche mit Anbauten sollte gebaut werden, hinein in ihre Lebensmitte.
Nun passten Kirchen nicht gut in eine sozialistische Stadt. In den 1970ern jedoch änderte sich der Kurs mit Dienstbeginn des SED-Generalsekretär Erich Honeckers etwas. „Ein bis dahin nicht bekannter Pragmatismus des Staates im Umgang mit der Kirche setzte sich durch“, wie Autor Jörg Kirchner 2008 im Band 4 „Kulturerbe in Mecklenburg-Vorpommern“ erläutert. Kurz zusammengefasst: In Knieper West durfte tatsächlich eine Kirche gebaut werden. Und der Staat kassierte Westgeld für den Kirchenbau – dank der Unterstützung durch die Evangelische Kirche Deutschlands im Westen, der EKD.
In den 1950er-Jahren waren auf dem Gebiet der DDR Kirchenbauten noch in größerer Anzahl möglich gewesen, einfach aufgrund der ungefestigten Herrschaftsstrukturen. In den 1960er-Jahren hingegen, in der Ära Walter Ulbrichts, war damit Schluss. Der Kirchenbau oder Erhalt war starken Restriktionen ausgesetzt. Nun, Anfang der 1970er, wurden kirchliche Bauaktivitäten sogar in sozialistischen Neubaugebieten offiziell erlaubt und die Kirche de facto als gesellschaftliche Institution anerkannt.
Treffen mit Honecker
Hintergrund war, dass sich bereits 1969 die evangelischen Landeskirchen zum „Bund der evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik“ (BEK) zusammengeschlossen hatten, erläutert Kirchner. Man versprach sich eine verbesserte Ausgangslage, um die kirchlichen Interessen gemeinschaftlich gegenüber dem Staat zu vertreten. In den 1970er-Jahren wurde der BEK zum Verhandlungspartner des Staates, der die Bedingungen für eine ‚Kirche im Sozialismus’ organisierte und den Versuch unternahm, diese zu verbessern“, schreibt Rudolf Mau 2005 über den „Protestantismus im Osten.“
Ergebnis war das landesweite Sonderbauprogramm für kirchliche Vorhaben, 1971 genehmigt für die Jahre 1973 bis 1975. Es umfasste Baumaßnahmen an 45 kirchlichen Bauten, finanziert durch die BRD. Meist waren das jedoch Erhaltungs- und Umbauten. Nur ein Neubauvorhaben war dabei – das in Stralsund Knieper West. Später kamen mehrere hinzu. „Stralsund war der Versuchsballon“, so Jax.
1978 traf Erich Honecker erstmals mit dem BEK-Vorsitzenden zusammen. Er erweiterte das Sonderprogramm: Nun waren auch kirchliche Neubauvorhaben in Wohngebieten vorgesehen. 1988 waren über dieses Sonderprojekt 18 neue Kirchen und Gemeindezentren entstanden, acht waren im Bau, neun in der Vorbereitung. Hinter diesem Einlenken des Staates stand aber nicht nur die pragmatische Idee, Devisen zu kassieren. Vielmehr versprach sich die Regierung auch, wie Mary Fulbrook im Buch „Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR“ erläutert, dass die Kirchen so zielgerichtet in die gesellschaftliche Entwicklung integriert werden sollten, um sie gemäß den Vorstellungen der Partei in das staatliche Räderwerk einzupassen.
Die Kirche am Rande der Stadt
Trotz der gewährten Freiheiten im Vergleich zu den 1960ern, herrschten beim Bau auch in Stralsund große Beschränkungen vor, die staatliche Genehmigungspraxis war von rigiden ideologischen Restriktionen geprägt. So musste die Kirche weit am südöstlichen Rand des Neubaugebietes stehen, möglichst so, dass sie eben nicht mit Bus erreicht werden könnte.
Die Gemeinde musste dazu Land tauschen. Die bürokratischen Hürden waren hoch. „Genehmigt war zuerst nur ein Gemeinderaum mit Sakristei“, erinnert sich Pastor Winrich Jax. „Aber wir sagten, eine Kirche braucht ja auch ein Archiv, und Toiletten und eine Teeküche.“
Trotz Hürden erhielt der Neubau Symbolkraft landesweit: „als eines der frühen Beispiele dafür, dass ein kirchliches Gemeindezentrum unter ausdrücklicher Genehmigung höchster staatlicher Behörden und unter Einordnung in den offiziellen Wirtschaftsplan in einem Neubaugebiet realisiert wurde“, so Kirchner. Ein Bau mit „staatlichem Segen“, sozusagen.
Das hochmoderne Gemeindezentrum mit Glockenturm und Wohnungen bestritt mit seiner Multifunktionalität neue Wege. „Da hingen auch theologische Entscheidungen dran: Wie machen wir das?“, sagt Jax. „Wir haben einen Mehrzwecksaal geschaffen, der ein toller Sakralsaal UND trotzdem Wohnzimmer und Festsaal der Gemeinde ist.“
Schwedischer Bischof zu Besuch
1975 begann der Bau. Am 16. Oktober 1977 lud man zur großen Einweihungsfeier mit Bischof Gienke von der Landeskirche Greifswald, mit schwedischem Bischof sowie staatlichen Gäste von Bezirks- und Stadtrat. Das Gemeindeleben entwickelte sich toll, der Bau zum Aushängeschild.
Auch Albrecht Mantei hegt eine Hochachtung vor den Bauleistungen damals. Gemeinsam mit Dietmar Mahnke ist er als heutiger junger Pastor für „St. Nikolai zu Stralsund“ zuständig – eine 2001 aus dreien fusionierten Großgemeinde. Trotz der Multifunktionalität geht eine sakrale Atmosphäre vom farbigen Betonglas des Künstlers Christoph Grüger aus, findet er. Die zum Altar aufsteigende Decke vermittelt Leichtigkeit, dank der Schalentragwerke von Ingenieur Ulrich Müther und dem Architekten Dietrich Otto.
Das bunte Gemeindeleben hat die Jahre überdauert. „Wir haben hier praktisch immer Aktionen“, sagt Mantei. 1988 kam ein Jugendhaus hinzu. Im Gemeindezentrum trifft sich alles von der Krabbelgruppe bis zum Tanzkreis der Älteren.
Genau genommen platzt es bei 3400 Gemeindegliedern sogar aus den Nähten. Und die Gemeinde wächst wieder: diesmal an aktiven, jungen Senioren, die ihren Lebensabend in der Umgebung verbringen.