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Die Herzen entwaffnen

Über den Predigttext zum Sonntag Quasimodogeniti: Kolosser 2,12-15

Predigttext
12 In der Taufe wurdet ihr mit Jesus begraben. Mit ihm wurdet ihr auch auferweckt. Denn ihr habt an die Kraft Gottes geglaubt, der Christus von den Toten auferweckt hat. 13 Ja, ihr wart tot aufgrund eurer Verfehlungen. Und eure auf das Menschliche ausgerichtete Natur hatte die neue Beschneidung noch nicht empfangen. Aber Gott hat euch zusammen mit Christus lebendig gemacht, indem er uns alle Verfehlungen vergeben hat. 14 Er hat den Schuldschein getilgt, der uns belastete – einschließlich seiner Vorschriften, die gegen uns standen. Er hat ihn ans Kreuz angenagelt und damit beseitigt. 15 Er hat die Mächte und Gewalten entwaffnet und sie öffentlich zur Schau gestellt. Er führt sie im Triumphzug mit, der für Christus abgehalten wird. (Basisbibel)

Es war vor vielen Jahren zu Beginn meines Gemeindepraktikums in einer Ruhrgebietsgemeinde. Der Pfarrer hatte alle Mitarbeitenden zu einem Abendmahl in anderer Form eingeladen. Als Theologiestudentin war ich gespannt: Wie wird das werden?

Am Eingang bekam jeder ein Teelicht. „Zünde dein Licht an der Osterkerze an und stelle es dann auf den Taufstein“, wurden wir begrüßt. „Dann setzt euch.“ In der Kirche war eine lange Tafel aufgebaut.

Da saßen wir mit etwa fünfundzwanzig Personen. Vorne am Tisch standen der Kelch und das Brot. Und vor dem Tisch war ein großes stabiles Holzkreuz aus zwei Birkenstämmen im Christbaumständer aufgestellt. Auf dem Tisch lagen Stifte und kleine Klebezettel.

Was ärgert uns am anderen?

Dann die überraschende Einladung des Pfarrers:
„Nehmt euch Zettel und schreibt auf, was euch an dem einen oder der anderen aus unserem Kreis auf die Nerven geht. Den Namen schreibt nicht dazu. Schaut euch um in der Runde. Welches Verhalten ärgert euch immer wieder?“

Ich erinnere mich noch genau an den Moment des Erstaunens und die Blicke, die in der Runde herumgingen. Aber dann fingen alle an zu schreiben. „Und jetzt heftet eure Zettel an das Kreuz.“

Wenig später standen wir alle um das Kreuz herum, versuchten neugierig die Zettel zu entziffern, auch mit dem Hintergedanken: „Könnte ich damit gemeint sein?“
„Du redest zu viel“ stand da zum Beispiel; oder: „Du bist immer so arrogant“ ; „Bei dir muss alles perfekt sein“ ; „Du kommst nicht aus dem Quark“; „Immer muss ich dir hinterherräumen“, und und und…

Dann kehrten wir zurück an den Tisch und feierten das Abendmahl. Einfach und schlicht: Einsetzungsworte, Vaterunser, die Einladung des Pfarrers „Gebt einander Brot und Wein mit den Worten: für dich gebrochen – für dich vergossen“.

So weit so gut. Aber das dicke Ende kam am Schluss: „Und jetzt steht auf,“ sagte der Pfarrer. „Geht zu denjenigen hin, über die ihr euch ärgert. Sagt einander, was euch quer geht. Aber stellt euch dabei vor, dass hinter eurem Gegenüber Christus steht und seine Hände liebevoll auf die Person legt. Sagt deshalb nicht nur die Kritik, sondern auch ein Kompliment.“

Zuerst war wieder Schweigen in der Runde. Dann ging ein Lächeln über die Gesichter. Die erste stand auf, andere folgten. Verlegen fing einer an. „Du, ja, wenn ich ehrlich bin, finde ich, dass du manchmal …“ „ja, so geht es mir auch“ , sagte eine andere, „aber manchmal bist du auch noch ganz anders, und das finde ich toll, das bewundere ich an dir…“

Das Eis war gebrochen. Ein lebendiger, humorvoller, liebevoller Austausch begann. Alles, was Minuten vorher noch zwischen uns gestanden hatte, war wie aus dem Weg geräumt. Die Vorwürfe und schlechten Erfahrungen miteinander, die Gewalten und Mächte von Vorbehalten und Verurteilungen in Köpfen und Herzen waren entwaffnet. Da war wirklich so etwas wie eine Auferstehung zu einem neuen Leben spürbar in dieser Gruppe der Mitarbeitenden.

Dieses besondere Abendmahl endete mit einer Segensrunde um den Taufstein mit den brennenden Kerzen.
„Ihr seid das Volk, das der Herr sich auserseh‘n, seid eines Sinnes und Geistes“, sangen wir und „Lasst Gottes Licht durch euch scheinen in der Welt“.

Fröhlich machten wir uns auf den Weg nach Hause, ein kleiner Teil des großen Triumphzugs, von dem der Schreiber des Kolosserbriefs spricht. Diesen Triumphzug stelle ich mir auch ganz fröhlich vor: ein tanzender Reigen mit Menschen aus allen Völkern, mit Kindern und Erwachsenen, mit denen, die vor uns gelebt haben und denen, die nach uns kommen. Alle achten aufeinander und sind mit leichtem Schritt unterwegs. Die Gesichter sind entspannt. Ein Triumphzug der Liebe, in dem der Hass, die Gewalt und alle zerstörerischen Mächte verwandelt sind.

Endgültig wird das erst am Ende aller Tage sichtbar werden, aber es scheint schon immer wieder auf: das neue Leben in Christus in der Gemeinschaft der Getauften und Kinder Gottes: „Quasimodogeniti – wie neu geboren.“