Zugegeben: Der Sprung von der Metropole London ins beschauliche Gelnhausen in Hessen scheint etwas gewagt. Aber es gibt da etwas, das beide Städte verbindet. In London gehört Big Ben zu den herausragenden Sehenswürdigkeiten. In Gelnhausen sind es die Türme der evangelischen Marienkirche, die das Bild der Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern und den mittelalterlichen Befestigungen prägen. Gut sichtbar prangt – sowohl am Big Ben in London wie auch an der Marienkirche in Gelnhausen – eine Turmuhr.
Seit dem 13. Jahrhundert verbreitete sich die Turmuhr
Nicht nur in London und Gelnhausen wissen sie seit alters her, was die Stunde geschlagen hat. Überall in Europa verbreiteten sich seit dem 13. Jahrhundert Turmuhren. Sie sind die ältesten kontinuierlich arbeitenden mechanischen Zeitmesser überhaupt. Die Herrschaft über die Zeit am Turm brachte die Herrschaft über die Menschen zum Ausdruck, die im Schatten dieses Turms lebten. Kein Wunder also, dass vor allem die aufstrebenden Städte Gefallen an der damals neuen Technik fanden.
Das Bestreben, Stunden, Tage und Monate zu ordnen, zieht sich wie ein Roter Faden durch die Geschichte der Menschheit. Aus Ägypten und Mesopotamien stammen die ältesten Kalender. Der nach Papst Gregor XIII. benannte und noch heute gültige Gregorianische Kalender löste Ende des 16. Jahrhunderts die von Julius Caesar eingeführte Zählung ab. Seit 1997 lässt Nordkorea die Zeitrechnung mit der Geburt von Staatsgründer Kim Il-sung beginnen. Dort leben die Menschen im Jahr 107.
Der gemeine EU-Bürger hat dagegen mit der Umstellung von Winter- auf Sommerzeit zu kämpfen. Nach dem Willen des EU-Parlaments soll die Brüsseler Kommission die ganze Angelegenheit noch mal kritisch unter die Lupe nehmen. Bis die Zeit reif ist für eine Entscheidung, können allerdings noch Jahre ins Land ziehen. Da mag es manchem nur ein schwacher Trost sein, dass früher mitnichten alles besser war. Im Gegenteil, da galten von Ort zu Ort verschiedene Zeiten. „Erst die Eisenbahn zwang zu einer Vereinheitlichung“, sagt Bernhard Schmidt.
Der Mann muss es wissen, denn er ist so etwas wie ein Herr der Zeit. Allerdings nicht so wie die grauen Gestalten der „Zeitsparkasse“ in Michael Endes Roman „Momo“, die ihren Mitmenschen Mußestunden stehlen wollen. Im Gegenteil, Herr Schmidt hütet die Zeit und schenkt sie denen, die den Weg in sein Turmuhrenmuseum oberhalb der Altstadt von Gelnhausen finden.
In einem Anbau präsentiert er, ordentlich aufgereiht, Turmuhrwerke aus fünf Jahrhunderten. Massive Balken tragen schwere Zahnräder, die an den Turmuhren die Geh- und Schlagwerke in Gang setzten. Später kamen Pendel hinzu. Alles zusam-men wurde im Turm hoch oben in der Nähe des nach außen sichtbaren Ziffernblattes verbaut, um lange Zeigergestänge zu vermeiden.
Turmuhren trotzen dem Wandel der Zeit
Ein Glück für Sammler wie Schmidt. Denn dadurch trotzten die Turmuhren dem Wandel der Zeit: Es war oft schlicht zu mühsam, sie auszubauen, nachdem sie ihre alles beherrschende Funktion verloren hatten. In der durchgetakteten Moderne wirken die behäbigen und garantiert nie auf die Sekunde genauen Uhrwerke wie aus der Zeit gefallen. Der Faszination tut das keinen Abbruch, findet Schmidt, von Haus aus Orgelbauer. „Mich interessiert vor allem die handwerkliche Kunst dahinter.“
Mit der Hand fährt er an einem der eisernen Zahnräder entlang. „Hier – die Spitzen sind innen schmaler als außen. Bis heute weiß keiner, wie man das damals bewerk-stelligt hat.“ Bis so eine Uhr in den Turm kam, war Teamarbeit vonnöten. „Alles fing im Wald an.“ Dort mussten Erzvorkommen erschlossen und im Holzfeuer verhüttet werden. Neben dem Schmied traten unter anderen auf den Plan: Zimmermänner, Seilmacher, Steinmetze – und nicht selten ein Lehrer, dessen Berechnungen die Grundlage für das Uhrwerk bildeten.
Unterm Strich konnte eine solche Unternehmung gut und gern den Gegenwert eines Bauernhauses verschlingen. Städte und Kirchengemeinden teilten sich daher oft die Kosten für Bau und Unterhalt der Uhren. Das liebe Geld wiederum sorgte nicht selten für Zwist zwischen Politik und Kirche. Noch 2014 hatte sich das Bundesverwaltungsgericht in Mannheim mit einem Rechtsstreit in einer solchen Sache herumzuschlagen.
Zeitmesser auf dem Turm waren teuer und kostbar
Ruhe an der juristischen Front ist deswegen noch lange nicht eingekehrt. In der jüngeren Vergangenheit häufen sich die Klagen über den Glockenschlag von Kirchturmuhren. Bernhard Schmidt kann die Beschwerden als solche in Grenzen nachvollziehen – „wenn man direkt daneben wohnt“. Er selbst jedoch sieht das völlig entspannt. „Ich habe einen guten Schlaf“, sagt er und schmunzelt.
Ob es dem 88-Jährigen aber schlaflose Nächte bereitet, was dereinst aus seiner Sammlung wird? Schmidt schüttelt den Kopf. Es gebe da so ein paar Ideen – die er aber einstweilen noch für sich behalten will. Die Stadt Gelnhausen habe allerdings schon auf sein Angebot verzichtet, die Sammlung zu übernehmen. Schade eigentlich, denn zum Schluss setzt der Sammler sämtliche Uhrwerke in Bewegung. Immer lauter schwillt das Ticktack-Geräusch an, ein bewegender Rhythmus, der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verschmelzen lässt. Fantastisch! Ein wenig ist das so wie bei Otfried Preußlers „Kleinem Gespenst“, dessen Tages- oder besser Nachtablauf auf Burg Eulenstein sich ja auch nach den Schlägen einer Turmuhr richtet.