Mit seinem Gemälde „Disputierende Mönche“ zeigte der Münchner Maler Carl Spitzweg, dass es unter Ordensbrüdern sehr menschlich zugehen kann. Man sieht zwei streitende Einsiedler in einer höhlenartigen Schlucht (siehe Bild). Der eine Mönch pocht auf eine Textstelle, während ihm der andere den Vogel zeigt.
Wie die Bibel zu verstehen ist, sorgt für Diskussionen, seitdem es sie gibt. Schon unter den ersten Christen der Urgemeinde war das ein Thema. Im 2. Petrusbrief, Kapitel 3, Vers 15, verweist der Verfasser auf „unseren lieben Bruder Paulus“ und auf seine Briefe – allerdings mit der Einschränkung: „… in denen einige Dinge schwer zu verstehen sind.“
Mit dem zeitlichen Abstand zur Abfassung der neutestamentlichen Schriften wuchs auch der Interpretationsbedarf. Der griechische Kirchenvater Origenes (185-254) entwickelte deshalb die Idee vom „mehrfachen Schriftsinn“. „Einfache Gläubige“ sollten die biblischen Berichte wörtlich nehmen und als historische Begebenheiten lesen, „Geübtere“ jedoch deren seelischen Sinn erfassen – und „Vollkommene“ ihren geistig-geistlichen Sinn. Dieser Dreischritt (somatische-psychische-pneumatische Auslegung) wurde dann durch Johannes Cassianus im 5. Jahrhundert zur Theorie vom vierfachen Schriftsinn ausgebaut, die für das gesamte Mittelalter prägend war.
Für Luther galt allein Jesus als Maßstab
Zum wörtlichen Verständnis tritt ein Dreischritt, der sich am Schema Glaube-Liebe-Hoffnung orientiert: Literalsinn (wörtliche, geschichtliche Auslegung); Allegorischer Sinn (Interpretation „im Glauben“) = dogmatisch; Tropologischer Sinn (Interpretation „in Liebe“) = moralisch; Anagogischer Sinn (Interpretation „in Hoffnung“) = endzeitlich.
Damit stand jedoch ein Problem im Raum: Die Heilige Schrift war mehrdeutig. Martin Luther lehnte den vierfachen Schriftsinn ab, er wollte zurück „zu den Quellen“. Bei der Rückkehr zu den Quellen fand er seinen Maßstab für die Schriftauslegung: Jesus Christus.
In der Folge entwickelte Luther die dreifache Auffassung vom Wort Gottes. Dessen erste Gestalt ist Christus selbst: Er ist das eine Wort Gottes, das in ihm Mensch geworden ist. Die zweite Gestalt ist das kirchliche Zeugnis von Christus: Luther sieht dabei einen Vorrang der mündlichen Verkündigung vor der schriftlichen Fixierung im Bibeltext. Unter dem Evangelium versteht er weniger das, was in Büchern steht, als vielmehr das Christuszeugnis in der Öffentlichkeit. Die dritte Gestalt des Wortes Gottes ist die Schrift gewordene Verkündigung als Bibelbuch.
Luther erkannte, dass in der Bibel sehr verschiedene Menschen aus unterschiedlichen Zeiten mit verschiedenen Meinungen zu Wort kommen. Die Bibel war für ihn kein vom Himmel gefallenes Buch. Gott hat sie nicht wortwörtlich diktiert. Luther sprach deshalb von der Knechtsgestalt des Wortes Gottes in der Bibel. Er warnte ausdrücklich davor, die Bibel zu einem „papiernen Papst“ zu machen, das heißt, an die Stelle autoritärer Entscheidungen aus Rom eine formale Bibelautorität zu setzen.
Im Christentum ist die Person Jesu Christi entscheidend, seine Verkündigung des Reiches Gottes, sein Umgang mit den Menschen, sein Leiden, Sterben und seine Auferstehung. Vielleicht hat Jesus deshalb nichts selbst aufgeschrieben. Die Bibel hat keinen Vorrang vor Jesus Christus. Die Bibel selbst bezeugt dies: „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ (1. Korinther 3, 11)
Die Bibel hat keinen Vorrang vor Jesus Christus
Darum gibt es auch nur ein Evangelium, das Evangelium von Jesus Christus (Römer 1, 9), darum gibt es nur einen Mittler zwischen Gott und Menschen. Nicht die Bibel ist dieser Mittler, sondern der Mensch Christus Jesus. (1. Timotheus 2, 5) Nicht die Bibel erlöst und rettet, sondern Jesus Christus. Christen glauben deshalb nicht an die Bibel, sondern an Gottes Offenbarung in Jesus Christus.
Durch seine Christuszentriertheit entging Luther der Versuchung einer Zementierung der Bibel. Die reformatorische Losung „Allein Christus“ gab Luther die Freiheit zu einer kritischen Sicht der Bibel. Nicht alles, was in der Bibel steht, ist deshalb schon Wort Gottes, sondern das, „was Christum treibet“, was die Rechtfertigung des Menschen allein aus Gnade predigt.
Mit seiner Sicht der Bibel hat Luther der neuzeitlichen historisch-kritischen Bibelinterpretation mit den Weg bereitet. Weil Luther in der Bibel die „Knechtsgestalt des Wortes Gottes“ sah, konnte nach historischen Umständen gefragt werden, unter und in denen Gottes Wort verkündigt und überliefert wurde.
Doch erst mit der Epoche der Aufklärung wurde die Bibel Gegenstand der wissenschaftlichen Kritik. Es wurden berechtigte Fragen gestellt: Wenn Mose der Verfasser der fünf Bücher Mose ist, wie kann er dann über seinen eigenen Tod schreiben? (5. Mose 37) Wieso gibt es zwei völlig unterschiedliche Schöpfungsberichte? Und wieso die verwirrenden Angaben in der Sintflut-Geschichte?
Bibelkritik war lange Zeit nicht gesellschaftsfähig. Als Zerstörer der Autorität der Bibel wurde der württembergische Theologe David Friedrich Strauß (1808-1874) angegriffen. In seinem aufsehenerregenden Buch „Das Leben Jesu“ (1835) bezeichnete er das Neue Testament als mythisch und überwiegend unhistorisch. Strauß unterschied erstmals zwischen der historischen Person Jesu von Nazareth und dem mythischen „Christus des Glaubens“. Er sah Jungfrauengeburt, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu nicht mehr als historische Tatsachen. Strauß verlor seine Stelle als Professor in Zürich und wurde von Kollegen als geisteskrank erklärt.
Die Frage, was an der Bibel Offenbarung Gottes und was Mythos oder fromme Dichtung ist, war damit nicht erledigt. Mit großem Elan wurde versucht, der Person des historischen Jesus näherzukommen und aus den Evangelien eine „echte“ Biografie Jesu zu rekonstruieren. Zwar scheiterte dieses Unternehmen, wie bereits Albert Schweitzer (1875-1965) in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ bilanzierte, doch die wissenschaftliche Herangehensweise an die Texte öffnete eine Sicht auf das Neue Testament, mit der auch Skeptiker für den Glauben gewonnen werden sollten.
Fortan bediente sich die Forschung der Mittel von Historikern, Archäologen, Psychologen oder Sprachwissenschaftlern. Die wichtigste Entdeckung:
Die Bibel ist ein Erzählbuch über das Leben
Die biblischen Autoren hatten ein anderes Weltbild als der moderne Mensch, ein mythisches – in Hölle, Erde und Himmel dreigeteiltes. Mit dieser Erkenntnis fand das Christentum Anschluss an die Moderne. Als dieses Weltbild herausgearbeitet werden konnte, wurde auch der Blick auf die zentrale Botschaft der Bibel frei: Der Gott Israels ist das begleitende Gegenüber des Menschen. Und Jesus offenbarte die unmittelbare Nähe des liebenden Vaters im anbrechenden Reich Gottes.
Kritische Bibelforschung hilft seither, zum Kern der Botschaft vorzudringen – sozusagen das ewig Gültige vom historisch bedingten Weltbild zu trennen. Nicht die Idee der Jungfrauengeburt wäre beispielsweise Gegenstand christlichen Glaubens. Sie kommt genauso formuliert auch in zeitgenössischen griechischen Götter- und Heldensagen vor. Sondern die darin ausgedrückte Botschaft von der Menschwerdung Gottes. Nicht das Sieben-Tage-Schema des ersten Schöpfungsberichts muss geglaubt werden (denn der zweite Schöpfungsbericht erzählt die Sache ganz anders), sondern dass Gott die Welt erschaffen hat.
Von Beginn an bietet die Bibel keine in den Himmel gehobenen Erfolgsstorys, sondern Geschichten von Menschen, die an ihrem Tiefpunkt noch eine Zukunft haben. Die Bibel ist kein Lehrbuch, sondern ein Erzählbuch über das Leben. Nicht geschrieben für Theologen und Priester, sondern für jeden Menschen. Nicht vom Himmel gefallen oder von einer göttlichen Macht diktiert, sondern ein menschlich-lebendiges Zeugnis der Erfahrung mit Gott.