Gedanken zur Jahreslosung 2019
Von Markus Dröge
Am Ende standen sie alle zusammen. Junge Chorsänger aus Russland, England, Frankreich und Deutschland. Gemeinsam sangen sie „Verleih uns Frieden“. Eine Motette von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Auf Deutsch. Es war wie eine Umarmung, die die ganze Gottesdienstgemeinde im vollbesetzen Berliner Dom umfasste. Nicht wenige Menschen waren tief gerührt. Zarte Stimmen, die zu einem vollen Klang verschmolzen. Zuvor hatten die Chöre den Gottesdienst am 11. November 2018 zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges mit verschiedenen Werken aus ihren nationalen kirchenmusikalischen Traditionen gestaltet. Jetzt standen sie alle zusammen, und die Erfahrung von Frieden zwischen den Völkern und Nationen wurde greifbar. 1914 war von der Kanzel des Berliner Domes zum Krieg aufgerufen worden. 104 Jahre danach erklang am gleichen Ort vielstimmig die Botschaft Jesu von Frieden und Versöhnung.Erzbischof Koch und ich hatten leitende Geistliche aus den Kirchen in England, Frankreich, Polen, Russland, Tschechien, Serbien und Rumänien zu diesem Gottesdienst eingeladen. Auch die orthodoxe Kirche war vertreten. Gemeinsam haben wir uns an die Verpflichtung aller europäischen Kirchen in der Charta Oecumenica 2001 erinnert, sich für das große Friedensprojekt Europa stark zu machen, Versöhnung zwischen den Völkern und Nationen und Frieden zwischen den Religionen zu suchen. 17 Jahre nach dieser gemeinsamen Erklärung wurde deutlich, dass diese Verpflichtung, formuliert in weniger spannungsreichen Zeiten, gerade jetzt eingelöst werden muss. Gerade jetzt ist das, was die Jahreslosung 2019 benennt, unser Auftrag: Suche Frieden und jage ihm nach!Frieden – Schalom. Im biblischen Denken verbindet sich mit Schalom die Erfahrung von Versöhnung und Gerechtigkeit. Es ist die Hoffnung auf einen umfassenden Frieden, der die Menschen insgesamt zufrieden sein lässt. Der Prophet Micha beschreibt den Frieden als ein Wohnen unter Weinstock und Feigenbaum (Micha 4,5). Alle haben das, was sie zum Leben brauchen: das Notwendige, und im Wein und in den Feigen auch das Schöne und das Süße. Und niemand wird sie erschrecken. Wenn alle haben, was sie zum Leben brauchen, dann braucht niemand mehr gegen den anderen das Schwert zu erheben. Und so muss auch niemand mehr das Kriegshandwerk erlernen. Das ist die Logik, aus der heraus Schwerter zu Pflugscharen und Speere zu Winzermessern umgeschmiedet werden können. Die Grundlage für einen umfassenden Frieden ist Gerechtigkeit. Suchen sollen wir diesen Frieden und ihm nachjagen. Die Jahreslosung fordert Aktivität. Nicht die Füße stillhalten und vorhandene Differenzen unter den Teppich kehren. Aktiv eintreten für Versöhnung und Gerechtigkeit erfordert paradoxerweise manchmal durchaus die Auseinandersetzung. Verletzende Äußerungen und Unrecht brauchen unseren Widerspruch. Mobbing und Herabwürdigung anderer Menschen müssen wir entgegentreten. Unsere Demokratie lebt von der politischen Debatte über die Frage, wie allen Menschen ein Leben in Würde ermöglicht werden kann. Konstruktive Lösungen erreichen wir im sachlichen Streit. Konflikte müssen benannt werden. Nur so ebnen sich Wege zu ihrer Lösung. Das Jahr 2019 liegt nun vor uns. 365 Tage Zeit, um den Frieden zu suchen und ihm nachzujagen. Im März habe ich die Bischöfin von London eingeladen, im Berliner Dom zu predigen und ich selbst werde eine Woche später in der St. Pauls Cathedral in London predigen. So wollen unsere Kirchen bekräftigen, dass unsere Verbundenheit nicht mit dem politischen Brexit endet. Am 1. September 2019 gedenken wir des deutschen Überfalls auf Polen, mit dem vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg begann. Dieses Datum wollen wir in Frankfurt/Oder und im Berliner Dom mit unserer polnischen Partnerkirche begehen. Im November feiern wir 30 Jahre Friedliche Revolution. Ihr Ruf war: „Keine Gewalt!“ Ihr Ziel war Recht und Gerechtigkeit. Der Kraft dieser Worte werden wir in diesem Jahr noch einmal nachspüren. Ich wünsche Ihnen ein friedliches neues Jahr!