Schon zu Lebzeiten Martin Luthers setzt eine reiche Legendenbildung über sein Leben und Reden ein: Zum Teil aus überbordender Ehrerbietung oder aus dem Hörensagen ersponnen. Dann aber auch von Gegnern bewusst zur Verspottung in die Welt gesetzt. Das Lutherbild sieht sich argen Verzerrungen ausgesetzt. Andreas Malessa hat sich an die dankenswerte Aufgabe gemacht, mit seinem neuen Buch „Hier stehe ich, es war ganz anders“ Licht in die wesentlichen Irrtümer über den Reformator zu bringen. Er tut dies mit hohem Respekt vor der großen Lebensleistung des einstigen Augustinereremiten-Mönchs. Das Bild Luthers, das darf mit historischem Abstand gesagt werden, hat durch die Realitätsverdrehungen keinen tieferen Schaden genommen.
In lockerer Folge sollen in UK einige Irrtümer über Luther klargestellt werden. Im Folgenden etwa die Frage, ob Luther in seiner Kammer auf der Wartburg tatsächlich ein Tintenfass nach dem Teufel geworfen hat und ob er der erste war, der die Bibel ins Deutsche übersetzte?
Souvenirjäger werden enttäuscht sein. Es ist unwahrscheinlich, dass der Reformator das Tintenfass geworfen hat, auch wenn dies lange Zeit (seit 1650) bei Burgführungen so behauptet und mit einem Tintenfleck an der Wand veranschaulicht wurde. Es stimmt zwar: Luther hat an die personale Existenz Satans geglaubt, war darin ganz Kind seiner Zeit. Aber der „historische Kern“ dürfte ein anderer gewesen sein. Luther hat sich einmal erstaunt darüber gezeigt, welche Wirkung seine 95 Thesen und ersten Aufsätze beim einfachen Volk, bei Wissenschaftlern und Fürsten hervorgerufen haben. In bildhafter Sprache unterstrich er, „den Teufel mit Tinte vertrieben“ zu haben. Der Tintenfleck ist wohl das Ergebnis eines in „übertragener Sprache“ gebrauchten, dann aber „wörtlich verstandenen“ Bildes, vermutet Malessa. So entstand als „Luther-Reliquie“ in der Luther-Stube ein „schaurig-schönes Souvenir“.
Die Bibel für den einfachen Mann
Während seines erzwungenen Aufenthalts auf der Wartburg ab dem 4. Mai 1521, dem Tag seiner „Entführung“, beschäftigte sich Luther mit der Übersetzung des Neuen Testaments. Ein Irrtum ist es, zu glauben, Luther übersetzte als Erster die Bibel ins Deutsche. Das hatte der gotische Missionar Wulfila (um 311 bis 383) lange vor ihm getan. Aber es waren nur Teile des Neuen Testaments und das Alte Testament fehlte ganz (zu viel Gewalt für die kriegerisch gesinnten Germanen). Zur Zeit Luthers standen immerhin 72 Teilübersetzungen der Bibel zur Verfügung. Diese hatten allerdings zwei tiefgreifende Schwachpunkte, die Luther durch seine Übersetzung beheben konnte. Zum einen waren sie nur aus dem Lateinischen übersetzt worden und nicht aus den ältesten vorhanden Texten in griechisch und hebräisch.
Zum anderen wurde durch die wortwörtliche Übersetzung der Wortsinn in deutscher Sprache unverständlich. Das hatte wohl zur Folge, dass die Verbreitung sehr gering war. In einer Tischrede von 1538 sagte Luther: „Als ich zwanzig Jahre alt war, hatte ich noch keine (Bibel) gesehen.“ Luther ist von der Botschaft des Evangeliums so tief angerührt, dass er sich schon länger mit dem Gedanken trägt, Jesusworte und Paulusbriefe für „die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse und den einfachen Mann“ so zu übersetzen, dass sie alle es lesen und verstehen können.
Eifrig macht sich Luther mit Hilfe der Urtexte an die Arbeit. Oft muss er Passagen überspringen, weil er tagelang nach den richtigen Worten sucht. Auch übersetzt er an Stellen sehr frei. Um die Texttreue ringt der Reformator dann mit seinem Freund Philipp Melanchthon – ein Griechischexperte – in Wittenberg, Wort um Wort. In einem überlieferten Gespräch sagt Melanchthon: „Du sollst wissen, Martinus, es geht mir nur ums Griechische!“ Darauf Luther: „Mir geht es nur ums Deutsche!“
☐ Andreas Malessa: Hier stehe ich, es war ganz anders. Irrtümer über Luther; SCM Hänssler 2015, 192 Seiten, 14,95 Euro.