ERFURT – Der Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge im Jahr 2000 war der Impuls für den „Thüringen Monitor“: Jenaer Wissenschaftler untersuchen seitdem die politische Kultur im Land. Der These „Die Juden haben einfach etwas Besonderes und Eigentümliches an sich und passen nicht so recht zu uns“ schloss sich 2017 jeder siebte befragte Thüringer an.
Manche setzen ihre antisemitische Einstellung in Taten um, einige landen dafür im Gefängnis. Dann sind sie ein Fall für Reinhard Schramm. Der frühere Professor der TU Ilmenau und heutige Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen kommt einmal im Monat in die Jugendstrafanstalt Arnstadt. Er trifft sich mit Gefangenen, um mit ihnen über seine Familiengeschichte zu sprechen.
Das erste Mal kam Schramm nach dem Anschlag auf die Synagoge. Einer der drei Täter bereute seine Tat. Der Professor traf sich mit ihm. Eine Aktion, die nicht allen in der Jüdischen Gemeinde gefiel. Schramm aber bekam später einen Brief des jungen Mannes. Er habe mit dem rechten Zeugs nichts mehr gemein, habe darin gestanden. Ein Zeichen? Ein Ansporn allemal. Seitdem geht der 73-Jährige regelmäßig in den Knast. Monat für Monat, „außer im Sommer“, sagt er und lacht.
Reinhard Schramm ist von ansteckender Fröhlichkeit, seine Augen blitzen, wenn er einen Scherz macht. Doch sie werden ernst, wenn er seine Lebensgeschichte erzählt: Die jüdische Mutter überlebt, weil sich ihr nichtjüdischer Mann nicht scheiden lässt. Er selbst wird 1944 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt geboren. Die ersten Monate seines Lebens verbringt er bis zum Kriegsende mit seiner Mutter im Versteck. Außer den beiden werden alle jüdischen Familienmitglieder umgebracht.
Seine Mutter will nach dem Krieg nur noch weg, in den neuen Staat der Juden. Doch Reinhard bekommt Keuchhusten. Im Krankenhaus sorgen sich die Ärzte mit Hingabe um ihn. Er wird wieder gesund. Später erfährt er, die gleichen Ärzte haben in der Nazizeit einem anderen jüdischen Kind die Behandlung verweigert: Bernd Wolfson starb an einer vereiterten Mittelohrentzündung.
Es sind Geschichten wie diese, die seine Zuhörer schlucken lassen. Er setzt sie bewusst ein. Es sind wahre Geschichten, seine Erlebnisse. Sie erzählen davon, wie im NS-Deutschland Nachbarn zu Fremden wurden, der Wert der Juden in den Augen vieler Deutscher von Tag zu Tag sank. „Bis wir nur noch Ungeziefer waren, das man zertreten kann“, setzt Schramm den Schlusspunkt. Dies soll sich nie wiederholen. Deshalb geht er regelmäßig in den Knast.
Schramm ist Ingenieur, kein Träumer. Doch er hofft, dass er mit der Geschichte seines Lebens und seiner Familie bei den jungen Leuten mehr erreichen kann als tumbe Sprücheklopfer. Meist seien seine Zuhörer interessiert, sagt er, fragten gezielt nach. Für fast zwei Stunden können sie seiner Wahrheit nicht entfliehen. Einer der Sätze, die er gern benutzt, lautet: „Damit sich die Geschichte nicht wiederholt, muss man sie kennen.“
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Der Professor und die Rechtsextremen
Einmal im Monat ist Reinhard Schramm im Jugendgefängnis und erzählt die Geschichte seiner Familie. Er kommt als Jude, der im Holocaust fast seine ganze Familie verlor

Jens-Ulrich Koch