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Der Langstreckenmann

Nur ein paar hundert Meter von Europas längster Stromkaje entfernt steht das „Welcome“, der internationale Seemannsclub im Hafen von Bremerhaven. Auf der einen Seite türmen sich Container, fahren langbeinige Portalhubwagen die Blechkisten zu riesigen Kranbrücken, mit denen Containerschiffe beladen werden, die zu den größten der Welt zählen. Auf der anderen Seite drängen Werft und Autoterminal an den Club. „Da fühlt man sich als Mensch ganz klein“, sagt der scheidende Stader Regionalbischof Hans Christian Brandy beim Ortstermin im „Welcome“. Und doch ist das hier einer seiner Lieblingsorte in der hannoverschen Kirchenregion zwischen Elbe und Weser, die er seit April 2010 leitet. Nun geht der evangelische Theologe mit 66 Jahren in den Ruhestand.

Brandys Herz schlägt besonders für Diakonie und Bildung, für neue Horizonte in der kirchlichen Arbeit, die sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren – und für die Seelsorge und soziale Arbeit der Deutschen Seemannsmission. „Die Seeleute und die Menschen, die in der technikorientierten Welt des Hafens arbeiten, dürfen nicht vergessen werden“, betont Brandy. Allein im „Welcome“ waren im vergangenen Jahr mehr als 30.000 Seeleute aus aller Welt zu Gast. „Diese Internationalität und die Gastfreundschaft, bei der Herkunft und Religion überhaupt keine Rolle spielen, das fasziniert mich“, unterstreicht Brandy, der schon als Jugendlicher Pastor werden wollte.

Der gebürtige Bonner wuchs in einem christlich orientierten Elternhaus in Burgwedel bei Hannover auf, geprägt von einer pietistisch orientierten kirchlichen Jugendarbeit. Von 1977 bis 1984 studierte er in Göttingen Theologie und war dort anschließend als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. 1989 wurde er mit einer Arbeit über die Christologie der Reformationszeit promoviert, arbeitete später als Gemeindepastor.

Er war auch Mitglied der umstrittenen und stark hierarchisch geprägten evangelischen Bruderschaft „Kleine Brüder vom Kreuz“ in der Südheide, die später in „Evangelische Geschwisterschaft“ umbenannt wurde. Auf diese Zeit hat er heute einen kritischen Blick. Er setzte sich ab den 1990er Jahren intensiv für die Umformung in eine demokratische und gleichberechtigte Gemeinschaft ein. Nach Zeiten als persönlicher Referent von Landesbischof Horst Hirschler und Landesbischöfin Margot Käßmann war Hans Christian Brandy Dezernent im Landeskirchenamt, bevor er als Regionalbischof in den Sprengel Stade kam. Seine Aufgabe: Die geistliche Leitung und Aufsicht in dem hannoverschen Kirchenbezirk, zu dem 182 Gemeinden mit rund 480.000 Kirchenmitglieder gehören.

Die Region umfasst das Gebiet zwischen Weser und Elbe von der Nordsee bis Rotenburg und Verden. Das Gotteshaus, in dem er besonders oft gepredigt hat, ist die historische St. Wilhadi-Kirche in Stade. Dort wird er auch am kommenden Sonntag (29. Juni) verabschiedet. Brandy habe, schreibt Landesbischof Ralf Meister in der Einladung, „mit profunder Kompetenz und ökumenischer Weite die Arbeit in der Landeskirche maßgeblich mitgestaltet, treu und pflichtbewusst“.

Das trifft insbesondere auf seine Mitarbeit am Entwurf für die grundlegend überarbeitete hannoversche Kirchenverfassung zu, die im Januar 2020 in Kraft trat. „Mit Leidenschaft, ich habe keine Sitzung verpasst“, erinnert sich der scheidende Regionalbischof. Auch daran zeigt sich: Dran bleiben, bis das Ziel erreicht ist, das ist sein Ding. „Ich kämpf mich durch, ich kann schwer umdrehen“, beschreibt es der verheiratete Vater von drei erwachsenen Kindern, der gerne auf dem Rad unterwegs ist. „Ich bin so ein Langstreckentyp“, sagt er über sich selbst.

So sind für ihn sein Glaube, das Netzwerk von Menschen um ihn herum, die Musik, aber auch der Ausdauersport echte Kraftquellen. Aktionen wie eine zehnwöchige Sabbatical-Pilgertour 2019 per Rad von Schottland bis nach Jerusalem – 5.825 Kilometer und 37.486 Höhenmeter – waren für ihn ein großes Geschenk: „Die Naturnähe, das Erleben der eigenen Körperlichkeit, manchmal auch die Einsamkeit und die Zeit, auf dem Rad nachzudenken: über das Leben, über Gott, die Mitmenschen, Beziehungen, über mich – das war ein spirituelles Erlebnis.“

2022 hat er es wieder getan. Diesmal waren es sechs Wochen und rund 4.000 Kilometer: der Jakobsweg auf dem Rad, vom niederländischen Eindhoven bis ins spanische Santiago de Compostela und darüber hinaus nach Gibraltar. Im Ruhestand, nach einem Umzug nach Hildesheim, will er sich auf jeden Fall weiter für die Seemannsmission engagieren. Und auf dem Rad sitzen: „Von Hildesheim nach Istanbul zum Beispiel. Oder, mit einem Freund, in Amerika von Vancouver die Westküste entlang nach San Diego. Und vielleicht noch weiter.“