Einen passenderen Arbeitsplatz kann es wohl für einen wie ihn kaum geben: Seit 1996 hat Stephan Groscurth sein Büro in der Kirchstraße 7, einige Straßen weiter strahlt der Backsteinbau der St.-Johanniskirche in der Maisonne. Dort, in Berlin-Moabit am Berliner Verwaltungsgericht, beschäftigt sich der 59-Jährige mit Wirtschaftsrecht, Führerschein- oder Asylsachen, „nebenbei“ ist er Pressesprecher des Gerichts – und engagiert sich im Ehrenamt als Vorsitzender des Kirchlichen Verwaltungsgerichts, seit gut neun Jahren: „Ich empfinde das als für mich passendes Engagement.“
39 Kammern am weltlichen Gericht. 1 Kammer beim Kirchengericht
Während das weltliche Verwaltungsgericht über 39 Kammern verfügt, hat das landeskirchliche Gericht gerade mal eine. Entsprechend vielfältig präsentiert sich die Richterarbeit. „Die Aufgabenfülle ist breit gestreut“, sagt Groscurth, „jeder Fall ist anders, jeder Fall ist neu.“ Das dreiköpfige Kirchengericht muss entscheiden: Stimmen die Bezüge einer Pfarrerswitwe? Darf eine Gemeinde ihr Gemeindehaus verkaufen, weil sie Geld braucht? Erhält ein Pfarrer genügend Heizkostenzuschuss? Wird ein ehrenamtlicher Mitarbeiter von „Laib und Seele“ ausreichend bei den Einsatzplänen berücksichtigt? Vom Versorgungs- über Haushalts- oder Pfarrdienstrecht und Immobilienfragen bis hin zu Hausverboten für Menschen, die Gottesdienste stören – er hat die verschiedensten Fälle bearbeitet. Groscurth betont wiederholt, dass sie zu dritt tätig sind – es widerstrebt ihm, und das sagt er auch, sich wichtig zu machen.
Neben einer weiteren Richterin, Esther Seedorf, so sieht es das Kirchengesetz vor, sitzt ein Theologe, Christoph Brust, dabei. In Vor- Coronazeiten fanden fünf bis sechs Fälle pro Jahr zu ihnen. Jeder Fall erfordert eine Einarbeitung, das kann zeitaufwändig sein. Aktuell ist es etwas ruhiger – vielleicht zu ruhig, denn einer wie Groscurth braucht viel zu tun, auch in der sogenannten Freizeit.
Chorsänger und Schulpate
Vor allem erfüllen Stephan Groscurth Musik und Chorgesang. Und seit Kurzem ist er einer der „Berliner Schulpaten“. Für das Projekt der Berliner Handwerkskammer begibt er sich an Brennpunktschulen und versucht, Fünftklässler für eine Berufsausbildung zu interessieren und organisiert Klassenbesuche im Gericht. „Das macht viel Spaß“, sagt er, und seine Augen leuchten. Dabei wirkt er nicht belehrend oder laut, sondern zugewandt und auf zurückhaltende Art empathisch, vor allem, wenn es um seine Ehrenämter geht. Freude mache auch das Kirchengericht, obwohl es da um unerfreuliche Dinge gehen kann, Versetzungsstreitfälle etwa „da wälzen wir viele Akten“.
Ein geistliches Wort zu Beginn jeder Verhandlung
Anders als in weltlichen Gerichten verliest der Pfarrer zu Beginn jeder Verhandlung ein geistliches Wort. „Ich finde sehr schön“, meint Groscurth, „dass wir mit einer Schriftlesung eröffnen.“ Oft seien zugrunde liegende Konflikte nicht juristisch aus der Welt zu schaffen, aber die Arbeit sei nicht unbefriedigend. Er kennt seine Grenzen: „Wir sind nicht für alles zuständig, aber das, wofür wir zuständig sind, klären wir.“ Dafür sei „eine ganz professionelle Distanz nötig, auch wenn das herzlos klingt“. „Herzlos“ wäre allerdings kein Attribut, das bei einem wie ihm in den Sinn kommt – „klar“ träfe es eher. Interessant am Kirchenrichteramt sei, dass ein Streitfall, bevor er vor Gericht kommt, „meistens schon sehr viel mehr eskaliert ist, als er es in weltlichen Zusammenhängen wäre“. Konflikte würden in christlichen Kreisen oft verdrängt, aber natürlich hätten Christen wie alle anderen mit Neid, Missgunst, Gier, Ehrgeiz, oder dem Gefühl fehlender Anerkennung zu kämpfen.
Die Konfliktvermeidung sei ein Problem innerhalb der Gemeinden, mache jedoch andererseits die Arbeit eines Kirchenrichters „reizvoll, weil wir den Konflikt in voller Ausprägung haben beziehungsweise ihn erst in so einer Verhandlung offenlegen“. Wollte er schon immer Richter werden? „Nee!“, kommt es sofort. Nach dem Abitur habe er mit „Aktion Sühnezeichen“ anderthalb Jahre in einem schottischen Stadtteilzentrum mitgearbeitet, und dort habe ein Anwalt armen Leuten Rechtsberatung gespendet. „Der hat mich inspiriert“, erzählt Groscurth, „der Richterwunsch kam dann erst im Referendariat.“ Für Verwaltungsrecht habe er sich entschieden, weil ihn die Frage „Was darf der Staat?“ umtreibe – „und weil ich ein politischer Mensch bin.“ Als ein solcher – „und als Protestant“ – fühle er sich der Gesellschaft verpflichtet.
Evangelisch geprägt
Von Kindheit an wurde er, 1964 in Recklinghausen (NRW) geboren und 1970 nach Berlin umgezogen, evangelisch geprägt. Sein Vater, der nach dem Interview für dieses Porträt starb, war Pfarrer, die Mutter Apothekerin. Groscurth hat einen älteren und einen jüngeren Bruder, zwei erwachsene Kinder, ist verheiratet mit einer Anwältin und verankert in der Berlin-Zehlendorfer Emmausgemeinde (früher Ernst-Moritz-Arndt-Gemeinde). Studiert hat er in Freiburg und Berlin. Angesprochen auf seine beiden Vorfahren, die gegen die Nationalsozialisten Widerstand leisteten, windet er sich ein wenig: Darüber spreche er im Rahmen einer Selbstdarstellung ungern. „Natürlich hat mich das geprägt“, sagt er, „aber es ist ja nicht mein Verdienst.“
Stephan Groscurth, auch darin ganz der protestantischen Ethik verpflichtet, hält sie auf stille Art in Ehren: „Das ist auch ein Antrieb, meinen Job gut zu machen.“