Erst im Jahr 638, während der Amtszeit des Kalifen Umar, wurde der heute bekannte islamische Kalender eingeführt. Damit wurde, fünf Jahre nachdem der Prophet diese Welt verlassen hatte, die 17 Jahre zurückliegende Auswanderung des Propheten von Mekka nach Medina als Beginn der neuen Zeitrechnung festgelegt. Der Monat Muharram wurde außerdem zum ersten Monat des Jahres bestimmt.
Die Bedeutung des Monats Muharram lässt sich aus den folgenden Worten des ehrenwerten Propheten Muhammed entnehmen: „Das vorzüglichste Fasten nach dem Monat Ramadan ist das Fasten im Monat Gottes, dem Muharram.“ Möge Gottes Segen und Frieden auf ihm sein! Allein die Bezeichnung als „Monat Gottes“ hebt den Muharram vor allen anderen Monaten hervor. Der zehnte Tag, Aschura, wird zudem in weiteren Überlieferungen als ein freiwilliger und zugleich wichtiger Fastentag im Islam beschrieben.
Der 10. Muharram: ein besonderes Datum
Den islamischen Geschichtsschreibern zufolge gibt es mehrere Anlässe, den 10. Muharram zu feiern. Zum einen endete an diesem Tag die Sintflut, als das Schiff des Propheten Noah auf einem Berggrund auflief. Mit den letzten Nahrungsmitteln auf dem Schiff wurde die erste Aschura-Suppe als Festessen zubereitet. Zum anderen fand an diesem Tag die Befreiung des Propheten Moses und seiner Gefolgschaft von der Unterdrückung des Pharaos statt. Aus Dankbarkeit gegenüber Gott hätten die Juden in Medina an diesem Tag gefastet. Muslime verstehen den Islam als eine Fortsetzung der Religion Gottes, die mit Adam und Eva begann, mit Noah fortgeführt wurde und mit Abraham einen wichtigen Höhepunkt erreichte. Daher sehen sie auch in der Errettung vor der Sintflut und im Auszug aus Ägypten Gründe, um Gott Dankbarkeit zu zeigen.
Knapp 60 Jahre nach der Auswanderung erhielt dieser Tag eine weitere Bedeutung. Am 10. Muharram 61 (10. Oktober 680) wurde Huseyn, ein Enkel des Propheten, samt seiner Gefolgschaft im zentralirakischen Kerbela von den Truppen des tyrannischen Herrschers Yazid massakriert. Yazid sah in Huseyn einen politischen Rivalen, der mit allen Mitteln beseitigt werden musste. Dass Huseyn zur Familie des Propheten gehörte, änderte für ihn daran nichts.
Während die schiitische Tradition bis heute das Leid in Kerbela am 10. Muharram jeden Jahres betrauert, orientiert sich die Mehrheit der Muslime weiterhin an folgendem Prophetenspruch: „Wer am Tag der Aschura großzügig zu seiner Familie ist, dem wird Gott das ganze Jahr über Seine Großzügigkeit zeigen.“
Zur Zeit des Osmanischen Reiches war es eine Palasttradition, dass die Bediensteten und das Volk am 10. Muharram beschenkt wurden. Im Palast und an unterschiedlichen Orten des Landes wurden außerdem Aschura-Suppen gekocht und verteilt. Auch in den einzelnen Familien wurde die Noah-Suppe zubereitet. Diese Süßspeise, hauptsächlich bestehend aus Weizen, Bohnen, Kichererbsen, getrockneten Datteln und Aprikosen, Mandeln und Granatapfelkerne, wurde mit den Kochkünsten der osmanischen Küche verfeinert.
Aschura – eine Suppe zum Teilen
In der Osmanischen Zeit wurden Kochrezepte nicht von Köchen, sondern von Ärzten geschrieben. Die Zubereitung von Speisen wurde daher der Medizin oder der präventiven Medizin zugeschrieben. Das Ziel war es, die Natur und Anatomie des Menschen, also die körperliche Harmonie, zu schützen oder wiederherzustellen. Jedes Nahrungsmittel hat eine eigene Natur und entsprechend eine spezifische Wirkung auf den Körper. In der Noah-Suppe vereinen sich verschiedene Zutaten zu einer ausgewogenen Mahlzeit. So wurde an diesem Tag eine besondere Nahrung bereitgestellt, die den körperlichen Bedürfnissen entspricht.
Die Zubereitung der Aschura erhielt einen zeremoniellen Charakter. Nachdem die Speise fertig war, versammelten sich Familienmitglieder um den großen Kochtopf am Feuer und trugen die Suren Yasin und el-Mulk vor. Sie schenkten diese Gebete als gute Taten an die Seelen ihrer Verstorbenen. Nach dem Öffnen des Deckels haben sie mit dem sich angesammelten Dampfwasser die Augen befeuchtet. Sie vertrauten darauf, dass auch der Dampf der Aschura-Suppe ihnen Gottes Segen spenden würde. Die erste Schüssel aus dem Topf blieb in der Familie, während der Rest an Gäste, Nachbarn und Bedürftige verteilt wurde.
Sie glaubten fest an die Segenskraft des Tages und zeigten sich besonders großzügig. Zu Hause und im ganzen Land herrschte an diesem Tag eine feierliche Stimmung. Diese Tradition wurde auch nach dem Ende des Osmanischen Reiches in Anatolien fortgesetzt. Musliminnen und Muslime aus Anatolien, die in Deutschland eine neue Heimat fanden, brachten sie dann nach Deutschland.
So stand oft eine feierliche Stimmung der Dankbarkeit und Freude im Spannungsverhältnis zur Trauer um den Enkel des Propheten. Dieser historische Last des 10. Muharram hat in der Geschichte auch Konflikte und Spaltungen unter den Muslimen verursacht. Ist Freude oder Trauer angebracht? Wird die Freude des Einen als Respektlosigkeit gegenüber dem Anderen empfunden? Trotz dieser historischen Bürde kann dieser Tag eine Gelegenheit zur Versöhnung werden. Dies liegt in den Händen der Musliminnen und Muslime.
Streitigkeiten überwinden
Meine Gemeinde und ich feiern den 10. Muharram. In dieser Feier vereinen sich Trauer und Freude. An diesem Tag wollen wir Streitigkeiten überwinden und sehen darin die Chance, den interreligiösen und innermuslimischen Dialog zu stärken. Insbesondere das Gedenken an den Auszug aus Ägypten kann den jüdisch-muslimischen Dialog fördern, während das Erinnern an die Sintflut den abrahamitischen Dialog stärken kann. Angesichts der zentralen Bedeutung der Aschura-Suppe als Abschluss der Fastentage in der alevitischen Tradition kann ein gemeinsames Gedenken für mehr Frieden und Verständnis untereinander sorgen.
Dialog bedeutet, miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Art der Kommunikation kann ihn entweder zu einem Konflikt oder zu einer Verständigung machen. In Anlehnung an ein anatolisches Sprichwort bitte ich alle Musliminnen und Muslime um den Dialog mit der Aschura-Suppe: Lasst uns gemeinsam mit unserer Familie, unseren Nachbarn und Freunden „Süßes essen und über Süßes reden“! Ich bete und setze mich dafür ein, dass der 10. Muharram zu einem gemeinsamen Feiertag des Friedens wird.
Kadir Sancı ist Imam im interreligiösen Zentrum „House of One“ in Berlin, Religionswissenschaftler und Pädagoge