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Der „gepflegteste Urwald der Welt“

Eine Begräbnisstätte als Lebenswerk – Planer und Friedhofsdirektor Wilhelm Cordes wollte einen modernen Friedhof, der dem Betrachter „freundlich und lieblich“ entgegentritt. Ein Besuch auf dem größten Parkfriedhof der Welt in Hamburg-Ohlsdorf

„Vor einer baumumstandenen Bodensenke geht man rechts über eine Wiese und vorbei an einem lieblichen Wasserlauf, weitläufigen Wiesen und Gehölzstreifen. Besonders bemerkenswert sind die Großbäume: Rotbuchen, Stieleichen und Blutbuchen. Hier wurde sogar der seltene Eisvogel beobachtet. Der Bach mündet in den idyllischen Nordteich.“

Was sich anhört wie ein Zitat aus einem Wanderführer, ist tatsächlich dem Informationsfaltblatt „Spaziergänge über den Ohlsdorfer Friedhof“ entnommen. Das ist nicht irgendeine Begräbnisstätte, sondern der größte Parkfriedhof der Welt. Die Anlage befindet sich im Hamburger Stadtteil Ohlsdorf und wartet mit jeder Menge Superlativen auf: knapp 400 Hektar groß, was etwa 550 Fußballfeldern entspricht, über 235 000 Grabstätten, 17 Kilometer Straßen, zwei Buslinien mit 23 Haltestellen, 700 Schöpfbrunnen und 2800 Bänke. Was jedoch nicht in nackten Zahlen ausgedrückt werden kann, ist der landschaftliche Reiz dieses sehr speziellen Friedhofs.

„Freundlich und lieblich“ für den Betrachter

Der Leitgedanke des Planers und späteren Friedhofdirektors Wilhelm Cordes prägt die Anlage bis heute. „Ein moderner Friedhof soll nicht eine Stätte der Toten und der Verwesung sein. Freundlich und lieblich soll alles dem Betrachter entgegentreten“, fasste Cordes sein Credo zusammen. Die 1877 eröffnete Begräbnisstätte sollte sein Lebenswerk werden, 38 Jahre blieb er ihr treu. Seinem Wunsch folgend wurde die Grüne Lunge der Stadt im Stile eines englischen Landschaftsgartens angelegt: Pflanzungen und Wege, Wasserläufe und Teiche – alles wurde der Natur nachgeformt und alles sollte sich einfügen in ein Gesamtbild, forderte Cordes. Dazu gehörten nach seinem Verständnis auch Architektur und Skulptur. 13 Kapellen, drei Feierhallen, das neobarocke Ensemble der Verwaltungsgebäude (geplant von Cordes) und der backsteinerne Koloss des Bestattungsforums (1933 eingeweiht als Krematorium) sowie geschätzte 800 Grab­skulpturen sind Beweise für die kulturhistorische Bedeutung des Ohlsdorfer Friedhofs.
Das Denkmal für Wilhelm Cordes liegt im schönen Rosengarten, der ein Bestandteil eines Naturlehrpfades ist. Denn auch naturkundliche Wanderungen, etwa Vogelbeobachtungen, sind in Ohlsdorf möglich. Der Naturschutzbund (NABU) bietet Führungen an. Das Grab des Friedhofplaners liegt eher versteckt, wie so viele in diesem verwunschenen Park. Es sollen sich schon Einheimische auf ihren Wegen zu den Gräbern, die sich oft hinter Hecken und Büschen verstecken, verlaufen haben.

Im Tod keine sozialen Unterschiede

Die streng geometrische Ordnung, die man von vielen Friedhöfen kennt, findet man in Ohlsdorf im nördlichen Friedhofsteil, der ab 1920 nach Plänen von Otto Linne angelegt worden ist. Die damalige Reformbewegung sah eine Vereinheitlichung der Friedhofs- und der Grabgestaltung vor. Im Tod sollten soziale Unterschiede aufgehoben sein. Selbst die Teiche sind rechtwinklig angelegt.
Dass der Friedhof als Erholungsraum geschätzt wird, sieht man an den vielen Radlern und Joggern, die vor allem den landschaftlich geplanten Teil schätzen. Beim Spaziergang unter hohen Wipfeln, über weite Wiesen und grüne Hügel, vorbei an den unzähligen Rhododendronhecken, unterhalten von Vogelgezwitscher und dem Gequake der Frösche, begleiten einen Gedanken an Tod und Vergänglichkeit nicht auf Schritt und Tritt. Der Weg durch diesen „gepflegtesten Urwald der Welt“, wie Wolfgang Borchert meinte, hat eher etwas Tröstliches. Das schlichte Grab des Schriftstellers liegt auf dem „Dichterhügel“ des Friedhofs. Man kann Ruhe finden und vielleicht sogar Kraft tanken. Der Tod und das Leben begegnen sich in Ohlsdorf nicht als Rivalen, sondern auf ganz natürliche Weise – so, wie es sich Wilhelm Cordes gedacht hatte. Der größte Parkfriedhof ist nicht nur eine Stadt der Toten, sondern auch eine der Lebenden: Hier gilt Tempo 30.
Wer dem kulturhistorischen Wert nachspüren möchte, hat sich viel vorgenommen. In Ohlsdorf begegnet man nicht nur der Hamburger Geschichte. Man macht sich auf den Weg zu Prominenten wie dem Tierparkgründer Carl Hagenbeck, dessen Grab ein bronzener Löwe bewacht, besucht Gustaf Gründgens und Ida Ehre, die nebeneinander ruhen, obwohl sie sich im Leben nicht so recht verstanden haben sollen, erweist der „Mutter der Nation“, Inge Meisel, ebenso die Ehre wie Hans Albers, Heinz Erhardt und James Last.
Schon von Weitem sieht man die gewaltige Stele, die Urnen mit Asche und Erde aus deutschen Konzentrationslagern enthält. Soldatenfriedhöfe diverser Nationen sowie Mahnmale für die Bombenopfer des Zweiten Weltkriegs oder die Hamburger Choleratoten von 1892 erinnern an die Katastrophen der Vergangenheit.
Freitreppen führen auf den „Millionenhügel“. Hier haben vermögende Hamburger ihre letzte Ruhestätte gefunden. Riesige Mausoleen, Grabkapellen und Säulenhallen, meist im Stil des Historismus erbaut, erzählen von vergangenem Reichtum. Ein großer Anker weist auf Seemannsgräber hin, während ein Lesender das Grab von Kurt W. Ceram „besetzt“, dem Autoren des Sachbuchklassikers „Götter, Gräber und Gelehrte“. Man findet den Garten der Frauen, eine Erinnerungsstätte für engagierte Bürgerinnen, das Grabmal-Freilichtmuseum der Ämtersteine, die von früheren Friedhöfen stammen, und auch islamische Gräberfelder.

Eine Friedhofsführung zum Thema Engel

Grabskulpturen sind ständige Begleiter des Spaziergangs. Über dem Hamburger Gedächtnisfriedhof wacht eine weiße Christusstatue aus Marmor, man findet Hammonia mit Stadtkrone und Wappen, aber   auch Merkur, den Gott der Kaufleute. Es gibt jede Menge flehende Jünglinge und trauernde Frauengestalten und noch mehr Engel. Letztere gibt es in so reicher Zahl, dass ihnen eine eigene Friedhofsführung gewidmet ist. Kunst gewordene Trauer: Die Begräbnisstätte in Ohlsdorf ist auch ein Skulpturenpark.
Beim Verlassen des Riesen-Friedhofs, auf dem über 1,4 Millionen Tote beigesetzt worden sind, wird man einem Gedanken von Thomas Bernhard zustimmen können. Der österreichische Schriftsteller meinte, dass Friedhofbesuche die nützlichsten seien, „sie dienen wie nichts der Belehrung und der Beruhigung“. Auch deshalb sind die Verbotsschilder am Eingang sinnvoll: Zelten ist nicht er-wünscht, Inline-Skaten und Angeln auch nicht.