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Der Fluch des Blutes

Wenige Stellen der Heiligen Schrift wurden so häufig herangezogen, um Gewalttätigkeiten gegen Juden zu rechtfertigen, wie ein Vers aus der Passionsgeschichte nach Matthäus

Es ist die heikelste Stelle des Matthäusevangeliums. Der gefangene Jesus steht nackt vor dem schreienden Volk und vor dem römischen „Landpfleger“ Pilatus. Der wäscht seine Hände und spricht den Satz: „Ich bin unschuldig an diesem Blut. Seht ihr zu.“ Darauf entgegnet ihm „das ganze Volk“: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“
Was hat der Evangelist mit diesem Wort gemeint?
Es sei geschehen, dass die jüdischen Ankläger Jesu „das ganze Volk“ aufwiegeln, heißt es im Evangelium. Und dann folgt der kollektive Schrei: „Sein Blut …“. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden: Du, Pilatus, magst jetzt eine unrechte Entscheidung treffen. Aber in der Konsequenz sollst nicht du, sondern wollen wir und unsere Kinder die Folgen tragen.
Bis heute ist das immer wieder verstanden worden als Selbstverfluchung Israels. Die Judenverfolgungen durch die Jahrhunderte bis hin zu den Konzen­trationslagern in der Nazizeit wurden damit oft gerechtfertigt: Das Unheil, das Juden widerfährt, ist Folge des Unheils, das mit jenem Schrei gesät worden ist, so hieß es. Hitler hat das im Mund geführt. Und viele andere Judenfeinde.
Es konnte wohl hier und da geschehen, dass Christen angesichts der Leidensgeschichte der Juden von Mitleid gepackt wurden. Aber dann musste der Laut vom „Blut über uns und unsere Kinder“ herhalten, um Solidarität mit den Juden abzublocken: „Sie haben sich ja selbst verflucht.“ Noch heute können Neonazis mit diesem Satz ein zynisches Spiel treiben.
Christen haben gegenüber den Juden durch Jahrhunderte hindurch – auch in der Folgewirkung von Matthäus 27,25 – eine unfassbare Schuld auf sich geladen. Überall, wo Juden von Christen verfolgt wurden, haben die Christen den „König der Juden“, wie es über dem Kreuz stand, ihren eigenen „Religionsstifter“ Jesus Christus verfolgt und neu verraten. Sie haben dabei oft erleben müssen, dass das Blut der bis aufs Blut verfolgten Juden über sie selber und ihre Kinder gekommen ist.
Es stellt sich die Frage: Wie können wir heute die Stelle im Matthäusevangelium verstehen, glauben und predigen, so dass in ihm nicht blanke Judenfeindschaft erscheint? Ich verstehe den Satz im Zusammenhang der Karfreitagsgeschichte so:
Der Gott Israels ist der Vater des gekreuzigten Jesus Christus. Ihn bekennen wir Christen als den dreieinigen Gott. Dieser einzige und eine Gott hat keine Freude am Blut der Menschen, an grausigen Hinrichtungen. Er hat weder den Brudermörder Kain und seine Kinder vernichtet. Noch hat er sein „Ja“ zu den Schrecken gesagt, die in Jahrtausenden über sein Volk Israel gebracht worden sind. Nein, gerade in den Karfreitagsstunden, in denen die politisch und religiös Verantwortlichen den verratenen Jesus von Nazareth umringen und zum Sterben ans Kreuz zwingen, bricht Gott das Blutgesetz von Totschlag und Rache, von Schuld und immer neuer Schuld.
Gott selber verwandelt durch den zum Kreuz Verurteilten den schrecklichen Satz für Juden und Christen, ja für die Welt. Er hat aus dem Fluch einen Segen gemacht. Das Blut Jesu wurde am Kreuz „ausgeschüttet“ für die Schuld der Menschen. „Christi Blut für dich vergossen“, heißt es in unserer Abendmahlsliturgie. Dieses Blut schreit nicht nach Rache, sondern nach Vergebung: auch für Pilatus und das schreiende Volk – und eben auch für uns. Gott weiß den Weg dorthin, wo auch diese Schuld möglicherweise einmal vergeben werden kann. Und er tut das so, indem der Gekreuzigte in der Solidarität mit allen Leidenden und Sterbenden stirbt. Der ist „für die Vielen“ gestorben, heißt es im Matthäusevangelium: „Das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für die Vielen zur Vergebung der Sünden“ (26,28). Gemeint sind die unendlich vielen Menschen aller Zeiten und Orte.
Nichts anderes bleibt übrig als die Hoffnung, dass Gott selbst den Fluchsatz zum Segen wendet: Das Blut Christi möge alle freimachen, die Schuld auf sich geladen haben und unter den Folgen ihrer bösen Taten und ihrer Trennung von Gott leiden. Das ist auch die letzte Hoffnung in unserer eigenen Schuldgeschichte gegenüber den Juden. Es ist dies die einzige Hoffnung angesichts einer Schuld an ihnen, die zum Himmel schreit und auf Erden eben nur sprachlos machen kann.