Nicht einmal im Tod fand er Frieden. In der Nacht vom 16. auf den 17. November 1624 starb der Görlitzer Schuhmacher, Handelsreisende und Mystiker Jacob Böhme, der mit seinen Schriften zu Gott, Natur und der Erkenntnis des Menschen einen Aufruhr in seiner Heimatstadt entfacht hatte. Oberpfarrer Gregor Richter, ein orthodoxer Lutheraner, hatte die Einwohner dermaßen aufgewiegelt, dass ein Mob auf den Nikolaikirchhof stürmte und Böhmes Grab schändete.
Was hatte er verbrochen? Böhmes Namenspatron, der biblische Stammvater Jacob, hatte mit Gott bis zur aufgehenden Morgenröte gerungen, so steht es in der Bibel. Auf ihn berief sich der 1575 geborene Böhme 1612 mit seiner ersten Schrift „Aurora oder Morgenröte im Aufgang“: eine Erinnerung an eine spirituelle Erfahrung von 1599 und zwei weitere „Berührungen“ durch Gott.
Nur für sich selbst habe Böhme die „Aurora“ geschrieben, davon ist Thomas Regehly überzeugt. Der Vorsitzende der Internationalen Jacob Böhme Gesellschaft weiß aber, dass die fragmentarische Schrift schon bald im Freundeskreis des Autors zirkulierte. Der Görlitzer Stadtrat konfiszierte die Originalhandschrift und setzte den Verfasser kurz unter Arrest. Der Oberpfarrer erteilte ihm Schreibverbot in allen kirchlichen Dingen und warnte seine Gemeinde von der Kanzel herab vor „falschen Propheten“.
Denn Böhme, der Autodidakt, hatte es nach langem Ringen gewagt, ohne theologisches Studium über das Wesen von Gott und Natur und die Entstehung der Seele zu schreiben. Georg Wilhelm Friedrich Hegel nannte Böhme auch den ersten „deutschen Philosophen“, weil dieser seine Werke nicht mehr auf Latein, sondern auf Deutsch schrieb.
Was er innerlich erfahren hatte, das nannte Böhme in seinen späteren Schriften den „Ungrund“. Denn: „Man kann nicht von Gott sagen, dass Er dis oder das sey, böse oder gut, daß er in sich selbst Unterschiede habe.“ Gott sei ohne Qualität, „ein ewiges Nichts“. Das war eine typische Erfahrung mystischer Tradition, die von der Kirche nicht geduldet wurde.
„Der ‘Ungrund’ ist aber nicht identisch mit Gott, sondern der Anfang von allem“, stellt Regehly klar.
„Höre, du blinder Mensch, du lebest in Gott, und Gott ist in Dir: und so du heilig lebest, so bist du selber Gott; wo du nur hinsiehest, da ist Gott“, schrieb Böhme. Das klingt nach Meister Eckhart, der im 14. Jh. päpstlich verurteilt worden war. Es klingt auch nach Pantheismus, der Gott und Natur als ein- und dasselbe definiert. „Nein“, sagt Regehly: „Die Natur ist für Böhme nur die Selbstoffenbarung Gottes.“
Regehly schätzt Böhmes kreative Sprache – die der Philosoph Hegel jedoch als „barbarisch“ bezeichnete. Die deutschen Idealisten, allen voran Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, waren von Böhme fasziniert. Auch die Frühromantiker, vor allem Novalis, haben „Aurora“ begeistert gelesen.
An das Schreibverbot des Oberpfarrers hielt sich Böhme dann auch nur einige Jahre. In seinem zweiten Werk „Von den drei Prinzipien“ spekulierte er 1618 über eine finstere Welt (Gottvater), eine Lichtwelt (Christus) und die reale Welt als „Wiedergeburt in Christo“. Sein Gedankenkonstrukt stellt er als dreidimensionale Kugel dar. „Zum Geist gelangt nur, wer in Christus wiedergeboren wird“, erläutert Regehly.
Wie verhält sich die evangelische Kirche heute zu ihm? „Böhme hat, leider, im Gedächtnis der evangelischen Kirche keine hervorgehobene Stelle“, erklärt der evangelische Kirchenhistoriker Volker Leppin, der zugleich Vorsitzender des Böhme-Beirats der Stadt Görlitz ist. Immerhin habe der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland am 1. Juli 1966 einen Evangelischen Namenskalender freigegeben, in dem am 17. November Böhme genannt werde.
„Er bleibt ein Einzelner – und die Evangelische Kirche täte sicher gut, sich von ihm anregen zu lassen“, fährt Leppin fort. „Böhme gelingt es, biblisches, christliches Denken mit Mystik und Philosophie in einer Weise zusammenzuführen, die neue Sprachwelten eröffnet – und genau das brauchen wir: die neue Sprache, die auch Luther erhoffte.“ Böhme könne „helfen, uns von verkrusteten Sprach- und Denkmodellen zu lösen“.
Zum 400. Todestag veranstaltet die Böhme-Gesellschaft eine Vortragsreihe unter dem Titel „Böhme für alle – Was kann der Görlitzer Philosoph uns heute noch sagen?“ im Kulturhistorischen Museum Görlitz, die im April 2025 endet. Auf dem Nikolaifriedhof markiert heute ein Findling Böhmes Grab, im Park des Friedens erinnert eine Bronzestatue an ihn. Das Böhmehaus mit seiner Dauerausstellung liegt im polnischen Teil der Stadt.