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Den Koran weiterdenken

Als Einwanderungsland hat Deutschland noch zu lernen, meint Kristin Helberg. An die Muslime appelliert die Publizistin, sich mündig mit ihrer eigenen Tradition auseinanderzusetzen

© epd-bild / Falk Orth

Der Islam braucht Zeit, sich zu verändern und weiterzuentwickeln. Genauso wie der Westen, dessen zivilisatorische Ideen Jahrhunderte zur Durchsetzung benötigt haben. Das meint die Publizistin und Syrienkennerin Kristin Helberg. Im Interview mit Leticia Witte sprach sie über die Chancen der Integration, Scheinprobleme und einen „deutschen Islam“.

Sie fordern, dass europäische Regierungen den moderaten Islam unterstützen müssten, um den radikalen zu bekämpfen.
Das Wichtigste ist, weniger Debatten über Scheinprobleme wie Burkas zu führen. Das Verfassungsgericht legt unsere Gesetze religions-positiv aus. Wenn die katholische Kirche Krankenhäuser, Kitas und Schulen betreibt, dann müssen wir das im Gegenzug, wenn wir unserer Verfassung folgen, auch Muslimen zugestehen. Wir brauchen einen „deutschen“ Islam. Also einen Islam, der in der Schule in einem Bekenntnisunterricht vermittelt wird. Moschee-Vereine sollten besser einbezogen werden in die Seelsorge, in Pflege und Jugendarbeit. Es wäre wichtig, dass wir die hier lebenden Muslime nicht in eine innere Migration treiben, so dass sie sich zurückziehen. Wir brauchen sie dringend für die Vermittlung zu den neu ankommenden Geflüchteten.

Ein Wort zu den Frauen: Sie sagen, der Koran sei eine emanzipatorische Schrift.
Im historischen Kontext, ja. Wir müssen Dokumente, die aus einer bestimmten Zeit stammen, mit den gesellschaftlichen Vorstellungen und Regelungen jener Zeit vergleichen. Wenn wir auf die arabische Halbinsel im 7. oder 8. Jahrhundert blicken, dann war die Tatsache, dass Frauen im Koran zu eigenen Rechtssubjekten erhoben wurden, also etwa erben konnten und andere Rechte bekamen, ein Riesenfortschritt. Auch, wenn sie nicht die gleichen Rechte bekamen wie Männer. Als muslimische Frauen erben durften, bekamen Frauen in Europa nach dem römischen Recht gar nichts, solange es einen männlichen Erben gab.

Und heute?
Wenn wir den Koran neben unser Grundgesetz legen, dann ist das eine Methode, bei der jede historische Schrift nur verlieren kann. Legen Sie das Alte oder Neue Testament oder die Texte Martin Luthers, Immanuel Kants neben unser Grundgesetz. Da ist vieles nicht mit unserer heutigen Vorstellung von Gleichberechtigung zu vereinbaren. Unsere vielgepriesenen Errungenschaften – Reformation, Aufklärung, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit – kamen in Europa jahrhundertelang nur weißen, reichen Männern zugute. Es dauerte 155 Jahre von der Französischen Revolution bis zum Frauenwahlrecht in Frankreich. Wir sollten uns deshalb klarmachen, dass unser aktueller zivilisatorischer Zustand nicht sehr alt ist. Das Gleiche müssen wir dem Islam zugestehen. Wir müssen den Koran in einen historischen Kontext setzen, um die eingeschlagene Richtung zu erkennen und diese weiterzudenken – dann landen wir bei der Abschaffung der Sklaverei und der Gleichberechtigung der Frau. Zu einer solchen Lesart des Koran müssten sich vor allem die Muslime selbst ermächtigen statt als unmündige und autoritätsgläubige Manipulationsmasse dem Geplapper von Fernsehpredigern zu folgen.

Wie kann man das Menschen näherbringen, die Angst vor dem Islam haben?
Das beste Rezept gegen Vorurteile und Angst ist persönlicher Kontakt: Muslime kennenlernen, die Frau mit dem Kopftuch nicht fürchten, sondern ansprechen. Das halte ich für wesentlich. Denn die Ängste sind dort am größten, wo Menschen keinen Kontakt zu Geflüchteten oder Muslimen haben. Angst ist ein nachvollziehbares Gefühl, sie sollte aber nicht lähmen. Denn dann wird der andere zur Projektionsfläche: Jeder dunkelhaarige Mann ist dann ein potenzieller Vergewaltiger. Wir sehen in ihm nicht einen jungen Mann, der womöglich ähnlich denkt und fühlt wie der eigene Sohn.

„Deutschland steht auf der Kippe", schreiben Sie. Helfen da Kontakte weiter?
Ja. Und ich erkenne nach dem Anschlag von Berlin einen Reifeprozess. Die rechtsnationalen Reflexe waren vorhersehbar, werden aber zunehmend durchschaut. Dank der intensiven Diskurse sind viele Bürger weiter als noch vor einem Jahr bei der Debatte um die Kölner Silvesternacht. Wir entwickeln langsam ein Selbstverständnis als Einwanderungsland. Faktisch sind wir das schon lange, vieles ist im Alltag aber noch nicht selbstverständlich. Das ist der Punkt, an dem wir erwachsen werden müssen. Noch stecken wir als Einwanderungsgesellschaft in der Pubertät fest, in der wir uns fragen, wer wir sind oder sein wollen.

Wie lautet Ihr Rat?
Wir sollten uns nicht so schnell persönlich angegriffen fühlen und uns nicht vor Veränderungen fürchten, sondern diese mitgestalten. Ein Beispiel: Wenn eine Kita sagt, sie verzichtet auf Schweinefleisch oder insgesamt auf Fleisch, weil die Esserei sonst so kompliziert wird, dann ist das eine einzelne pragmatische Lösung und nicht das Ende des Abendlandes. Es fordert niemand, Schweinefleisch in Deutschland zu verbieten. Es wäre gut, etwas gelassener zu werden. Alles, worauf es ankommt und was nicht verhandelbar ist, steht im Grundgesetz. Sei es die Gleichberechtigung der Frau oder die Freiheit des Glaubens.